VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 02.08.2005 - RN 7 K 04.30227 - asyl.net: M7416
https://www.asyl.net/rsdb/M7416
Leitsatz:

Posttraumatische Belastungsstörung im Sandzak nicht behandelbar; lediglich medikamentöse Behandlung im übrigen Serbien und Montenegro nicht ausreichend.

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Krankheit, Abschiebungshindernis, psychische Erkrankung, Sandzak, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Retraumatisierung, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Posttraumatische Belastungsstörung im Sandzak nicht behandelbar; lediglich medikamentöse Behandlung im übrigen Serbien und Montenegro nicht ausreichend.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Klägerin ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG) wegen ihres Gesundheitszustandes ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (bis 31.12.2004: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) zuzubilligen.

1. Aus der ausführlichen Zeugenaussage des gerichtlich vernommenen, die Klägerin langjährig behandelnden Nervenarztes Dr. ... ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts, dass die Klägerin unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, einer andauernden Persönlichkeitsänderung und einer langfristigen und schweren depressiven Episode leidet.

3. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen ist jedenfalls ein besonders schweres psychisches Krankheitsbild, wie das der Klägerin, im Sandzak derzeit noch nicht hinreichend behandelbar; dies gilt insbesondere für die aus fachärztlicher Sicht notwendigen psychotherapeutische Behandlungs- und Betreuungsschritte:

Zwar sind auch psychische Erkrankungen in Serbien-Montenegro grundsätzlich behandelbar. Die im Falle der Klägerin notwendigen therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten stehen dort derzeit aber noch nicht zur Verfügung. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.03.2005 sind die Behandlungsmöglichkeiten für Psychiatriepatienten in Serbien-Montenegro begrenzt. Psychische Erkrankungen wie z.B. die posttraumatische Belastungsstörung würden im öffentlichen Gesundheitswesen in der Regel rein medikamentös behandelt. Selbst wenn man jedoch annehmen wollte, dass durch einen privaten Facharzt für Neurologie und Psychiatrie oder eine private Klinik eine fortlaufende und adäquate Behandlung und Betreuung der Klägerin erfolgen könnte, wäre diese für sie jedenfalls im benötigten Umfang nicht erreichbar. Denn ein Großteil der Bevölkerung kann sich wegen des geringen Durchschnittseinkommens eine Krankenbehandlung auf privatärztlicher Basis nicht leisten. Die muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie im Falle der Klägerin - eine langfristige, kontinuierliche und aufwändige fachärztliche Behandlung und Betreuung im Raume steht. Im übrigen ist sogar schon die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen der Grundversorgung im öffentlichen Gesundheitswesen seit 2003 nicht mehr gänzlich kostenfrei; nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes a.a.O (S. 31) sind etwa für einen Behandlungstermin zwischen 0.30 Euro und 10 Euro zu zahlen. Eine zielstaatbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht aber selbst dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar grundsätzlich zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002, DVBl 2003, 463; BVerwG, B. v. 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urt v. 24.06.2003, AuAS 2004, 20).

Speziell im Fall von posttraumatischen Belastungsstörungen (und ähnlichen Krankheitsbildern), bei denen es darum geht, dem behandelnden Arzt von den erlittenen Qualen, den Demütigungen und dem Schaden zu erzählen, sei es undenkbar, dass jahrelang systematisch gedemütigte und unterdrücke serbische Muslime nach so kurzer Zeit wieder Vertrauen zu ihren früheren "Unterdrückern" fänden. Nach alledem scheidet daher auch die Möglichkeit einer psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Behandlung der Klägerin in Serbien und Montenegro aus.

4. Im Falle der Rückkehr der Klägerin nach Serbien-Montenegro zum jetzigen Zeitpunkt bestünde nach Überzeugung des Gerichts die konkrete Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes.

Der behandelnde Arzt hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es angesichts der vorliegenden schwerwiegenden Erkrankung der Klägerin (schon) bei einer nur medikamentösen Weiterbehandlung, unter Berücksichtigung des bisherigen Krankheitsverlaufs und von Art und Ausmaß der Krankheitsbilder, mit Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes kommen würde. Nach den nachvollziehbaren Aussagen ist für den Fall der Rückführung der Klägerin in die Heimat mit einer erheblichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu rechnen, da es dort auf vielfältige Weise zu einer Retraumatisierung kommen kann und die Klägerin derzeit noch über keine adäquaten Verarbeitungsmechanismen verfügt. Dem entspricht es, wenn in der einschlägigen Fachliteratur übereinstimmend davon ausgegangen wird, dass bei posttraumatischen Belastungssyndromen eine medikamentöse Behandlung nur mit zusätzlicher Psychotherapie langfristig erfolgreich sein kann und eine solche Therapie nur unter gleichsam geschützten Bedingungen, d.h. ohne die Gefahr des Wiederauflebens der Befürchtungen möglich ist (Bittenbinder, Asylpraxis, Band 9 S. 35, 54 ff; Graessner u.a., Die Spuren von Folter, S. 77 ff.; Koch, Asylpraxis, Band 9, S. 78). Der sachverständige Zeuge kommt somit nachvollziehbar und schlüssig zum Ergebnis, dass im Fall einer Rückführung der Klägerin nach Serbien-Montenegro zum jetzigen Zeitpunkt eine schwerwiegende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu erwarten wäre und es in der Folge sogar zur Suizidalität kommen könnte. Es ist daher im vorliegenden Fall vom Bestehen einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auszugehen.