VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 15.09.2005 - 3 UE 2381/04.A - asyl.net: M7417
https://www.asyl.net/rsdb/M7417
Leitsatz:

Aus Aserbaidschan stammenden armenischen Volkszugehörigen steht grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach offen.

 

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Armenien (A), interne Fluchtalternative, Berg-Karabach, Erreichbarkeit, Anerkennungsrichtlinie, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Zielstaatsbezeichnung, Versorgungslage, medizinische Versorgung
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

Aus Aserbaidschan stammenden armenischen Volkszugehörigen steht grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach offen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Verwaltungsgericht hat die Klage auch nach Durchführung der Beweisaufnahme des Senats zu Recht abgewiesen, denn der Kläger hat weder einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter noch einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (vormals § 51 Abs. 1 AuslG) noch auf Feststellung von Abschiebungshindemissen gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG (vormals § 53 Abs. 6 AuslG).

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat bereits in seinem Beschluss vom 30. Mai 2003 - 3 UE 858/02.A - zu den Lebensbedingungen armenischer Volkszugehöriger in Aserbaidschan unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des OVG Rheinland-Pfalz vom 20. September 2001 - 6 A 11840/00 - und des OVG Schleswig-Holstein vom 12. Dezember 2002 - 1 L 239/01 - ebenso wie zum Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative in Berg-Karabach Stellung genommen. Auf diese Entscheidung, auf die der Kläger besonders hingewiesen worden ist, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Der Senat kommt auch nach der durchgeführten Beweisaufnahme zu dem Ergebnis, dass der Kläger heute bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan am Ort der inländischen Fluchtalternative - Berg-Karabach - hinreichend sicher vor erneuten asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen ist, er dort auch nicht anderen existentiellen Bedrohungen ausgesetzt ist, die so am Herkunftsort nicht bestünden, und die Enklave Berg-Karabach von Deutschland aus über Armenien erreichbar ist.

Er kann entweder durch Beantragung des "Flüchtlingsstatus" in Armenien ggfs. mit Erhalt eines Flüchtlingsausweises nach Art. 28 der Genfer Flüchtlingskonvention oder durch Beantragung einer Einreiseerlaubnis nach Berg-Karabach in der ständigen Vertretung in Eriwan seine Einreise erreichen, auch wenn die Bearbeitungszeit der Anträge ggfs. einige Zeit in Anspruch nehmen kann. Dies ist jedoch zumutbar, da der Kläger als armenischer Volkszugehöriger in Armenien sich dort wird vorübergehend aufhalten können und einer Arbeit nachgehen kann, die es ihm ermöglichen wird, die Zwischenzeit bis zur Einreise nach Berg-Karabach zu überbrücken.

Der Kläger wird am Ort der inländischen Fluchtalternative auch nicht anderen existentiellen Bedrohungen ausgesetzt sein, die so am Herkunftsort nicht bestünden. Hierbei verkennt der Senat nicht, dass die Lebensbedingungen in Berg-Karabach schwierig sind und der Kläger mit staatlicher Unterstützung nicht wird rechnen können. Der Senat verkennt nicht, dass dies für den Kläger besondere Schwierigkeiten aufwirft, da er zuvor nach seinen Angaben nicht in der Landwirtschaft tätig war. Hierauf kommt es jedoch, worauf der Senat in seinem Beschluss vom 30. Mai 2003 - 3 UE 858/02.A - bereits hingewiesen hat, nicht entscheidungserheblich an, da selbst wenn für den Kläger das wirtschaftliche Existenzminimum in Berg-Karabach nicht gewährleistet wäre, dies nicht die Feststellung der Voraussetzungen des Art. 16 a GG, § 60 Abs. 1 AufenthG rechtfertigt, denn das fehlende wirtschaftliche Existenzminimum wäre nicht verfolgungsbedingt. Auf die entsprechenden Ausführungen in dem Beschluss des Senats vom 30. Mai 2003 (- 3 UE 858/02.A -, S. 17 ff. des Beschlussumdruckes) wird verwiesen. In diesem Zusammenhang ist für den Senat mit entscheidend, dass sich die wirtschaftliche Situation in Aserbaidschan nicht verbessert hat, während dies in Armenien insgesamt der Fall ist. Zwar ist die Republik Armenien völkerrechtlich nicht für Berg-Karabach zuständig. Das Gebiet gehört aus Sicht aller Staaten zu Aserbaidschan. Faktisch hat die aserbaidschanische Regierung jedoch keine tatsächliche Kontrolle und keinen Zugang zu dem Gebiet.

Soweit der Bevollmächtigte des Klägers meint, dass Gebot der richtlinienkonformen Anwendung stehe der Annahme einer inländischen Fluchtalternative entgegen, kann dem nicht gefolgt werden.

Der Bevollmächtigte des Klägers meint insoweit, Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - (Amtsblatt Nr. L 304 vom 30/09/2004, S. 12 ff.) stehe der Annahme einer inländischen Fluchtalternative, dort interner Schutz, entgegen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie können die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Gemäß Art. 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie berücksichtigen die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Abs. 1 erfüllt, die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Art. 8 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie kann Abs. 1 auch dann angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen.

Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie ermächtigt die Mitgliedsstaaten zunächst grundsätzlich, den internationalen Schutz einzuschränken, wenn die betreffende Person in einem Teil des Herkunftslandes internen Schutz genießt. Der Bevollmächtigte des Klägers stellt insoweit die Frage, ob von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in dem Landesteil - Berg-Karabach - aufhält oder ob dieser nur unter unzumutbaren Bedingungen erreichbar ist. Der Kläger wird, um den Ort des internen Schutzes aufsuchen zu können, notwendigerweise über Armenien reisen müssen. Aufgrund der Tatsache, dass er selbst armenischer Volkszugehöriger ist - die Volkszugehörigkeit leitet sich, wie bereits oben ausgeführt, von dem Vater des Klägers ab - wird er in Armenien aufgenommen werden, und, soweit er den Flüchtlingsstatus beantragt, sogar in Hilfsprogramme aufgenommen werden. Eventuelle Wartezeiten, um zum Ort des internen Schutzes gelangen zu können, wird er daher in Armenien überbrücken können, wo ihn aufgrund seiner armenischen Volkszugehörigkeit auch keine sonstigen Benachteiligungen erwarten. Dass die Lebensbedingungen in Berg-Karabach schwierig sind, könnte der Annahme entgegenstehen, dass von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass, wie sich aus den eingeholten Auskünften ergibt, für Außenstehende, d.h. nicht aus Berg-Karabach stammende Personen, keine Arbeitsplätze zur Verfügung stehen und die Ansiedlung dort eigene Mittel voraussetzt, um etwa eine kleine Landwirtschaft oder ähnliches zu erwerben und davon zu existieren. Wie sich aus dem gesamten Regelungsgefüge der Qualifikationsrichtlinie ergibt, muss es sich jedoch bei den Gefahren, die zur Anerkennung internationalen Schutzes führen, um verfolgungsbedingte Gefahren handeln. Soweit wirtschaftliche Nachteile, die am Ort der Verfolgung ebenso oder noch stärker bestehen als am Ort des internen Schutzes, nicht verfolgungsbedingt sind, sind sie bei der Frage, ob von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, sich am Ort des internen Schutzes aufzuhalten, nicht zu berücksichtigen. Im Übrigen verfügt der Kläger, wie bereits oben ausgeführt, über Bezugspunkte in Nagorny-Karabach, da seine Ehefrau aus Matakert stammt und er daher dort einen familiären Anknüpfungspunkt hat.