BlueSky

VG Bayreuth

Merkliste
Zitieren als:
VG Bayreuth, Urteil vom 30.05.2005 - B 6 K 04.30262 - asyl.net: M7421
https://www.asyl.net/rsdb/M7421
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von Chaldäern, da diese sich wegen drohender Übergriffe auf zwingende Gründe berufen können, die der Rückkehr in den Irak entgegenstehen.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Christen (katholische), Chaldäer, Genfer Flüchtlingskonvention, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Schutzfähigkeit, Situation bei Rückkehr, zwingende Gründe, Sicherheitslage, Terrorismus, Kriminalität
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5
Auszüge:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von Chaldäern, da diese sich wegen drohender Übergriffe auf zwingende Gründe berufen können, die der Rückkehr in den Irak entgegenstehen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 17. Juni 2004 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 und 3 AsylVfG ist u.a. die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (früher: § 51 Abs. 1 AuslG a.F.) vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Von einem Widerruf ist abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG müssen also die für die Statusgewährung des früheren § 51 Abs. 1 AuslG maßgebenden Voraussetzungen nachträglich weggefallen sein, d.h. es dürfte heute eine derartige Statusgewährung nicht mehr ausgesprochen werden (vgl. Hailbronner, AuslR, Komm., Ordner 3, RdNr. 8 zu § 73 AsylVfG mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Nach § 60 Abs. 1 des ab 1. Januar 2005 maßgeblichen Aufenthaltsgesetzes darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsteilung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 539) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verweist nunmehr ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, die Genfer Konvention - GK -. Dies bedeutet, dass nicht nur der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 A GK als innerstaatliches Recht gilt, sondern dass auch der Flüchtlingsschutz solange bestehen muss, bis er nach Art. 1 C GK wieder endet. § 73 Abs. 1 AsylVfG ist also im Lichte des Art. 1 C GK zu interpretieren (von Art. 25 GG gebotene völkerrechtsfreundliche Auslegung von Normen, vgl. Herdegen in Maunz/Dürig, GG, Kommentar, RdNr. 37 zu Art. 25).

Nach Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GK fällt eine Person, auf die die Bestimmungen des Abschnitts A zutreffen, nicht mehr unter dieses Abkommen, wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Nach der Interpretation des UNHCR, der sich das Gericht anschließt, bedeutet dies: Die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft kommt erst dann in Betracht, wenn sich die Verhältnisse im Herkunftsland grundlegend und dauerhaft verändert haben und aufgrund dieser Veränderungen sicher gestellt ist, dass der Betroffene im Herkunftsstaat effektiven Schutz erlangen kann (vgl. UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention vom April 2005; vgl. auch UNHCR-Vertretung Deutschland in NVwZ 2005, 541, 543).

Die politische Situation im Irak hat sich durch die am 20. März 2003 begonnenen und am 2. Mai 2003 weitgehend beendeten Militäraktionen einer Koalition unter Führung der USA grundsätzlich verändert.

Dagegen ist das Merkmal des effektiven Schutzes im Herkunftsstaat im Falle des Klägers nicht erfüllt. Effektiver Schutz in diesem Sinne bedeutet nicht, dass nach der Veränderung der politischen Verhältnisse in einem Land ein lückenloser Menschenrechtsschutz gewährleistet sein müsste. Vielmehr hängt dieses Merkmal eng mit Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 GK zusammen, der sich im Wesentlichen in § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG wiederfindet, wonach von einem Widerruf abzusehen ist, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Entscheidend ist also das Fehlen einer zumutbaren Rückkehrmöglichkeit (so Hailbronner, a.a.O., RdNr. 28 zu § 73 AsylVfG), d.h. es kommt darauf an, ob der Flüchtling mit beachtlichen Gründen eine Rückkehr in den Verfolgerstaat ablehnen kann. Dabei ist auch der humanitäre Charakter der Klausel des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG bzw. des Art. 1 C Nr. 5 GK zu berücksichtigen (vgl. Bad. Württ. VGH, Urteil vom 12. Februar 1986, InfAuslR 1987, 91; vgl. nunmehr auch Marx, Widerruf wider das Völkerrecht, InfAuslR 2005, 218 ff.).

Zusammenfassend kommt der Sachverständige (bezüglich der Chaldäer) zu dem Ergebnis, dass ihre Lage gegenwärtig durchaus als sehr heikel angesehen werden kann. Die Verfolgungsfurcht ist real. Sie besteht individuell in der Form von Mord und Totschlag, von Entführungen, von bewaffneten Angriffen jeder Art, aber auch insoweit, als auf christliche Kirchen während der Gottesdienste Anschläge verübt werden. Zwar beruht diese Verfolgung nicht auf staatlichen Aktivitäten - soweit es solche gegenwärtig gibt -, sondern auf religiös aufgehetzten Mördern. Im Weiteren führt der Sachverständige zur Schutzgewährung durch die staatlich-administrativen Einrichtungen bzw. durch die Koalitionsstreitkräfte noch aus: "Im Ergebnis lässt sich sagen, dass die gegenwärtige Gefährdungslage weder Ergebnis noch Zielsetzung staatlicher Politik ist, dass freilich die staatlichen Akteure das Geschehen im Irak gegenwärtig nicht in der Hand haben, sondern nur "Mitspieler" sind, dass die Fähigkeiten zur Schutzgewährung für - allerdings - bedrängte Christen faktisch nicht vorhanden sind und solcher Schutz auch in Ermangelung faktischer Mittel nicht in der Form nachwirkender Verfolgung von Straftätern stattfindet, obwohl auch dies nicht einer diskriminierenden Intention, sondern schlicht und ergreifend dem Mangel an Möglichkeiten zuzuschreiben ist."

Unter diesen Umständen besteht für den Kläger als Angehörigen der chaldäischen Kirche die erhöhte Gefahr, Opfer terroristischer Anschläge radikaler (fundamentalistischer) Moslems zu werden (vgl. hierzu bereits VG Bayreuth, Urteil vom 26. August 2004 - Nr. B 6 K 03.30448). Da der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak in eine erneute Zwangslage geraten würde (auch wenn dieser möglicherweise nicht mehr die Qualität einer politischen Verfolgung beizumessen ist, was hier im Übrigen im Hinblick auf § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG zweifelhaft ist), ist ihm "aus beachtlichen Gründen" eine Rückkehr in den Irak nicht zumutbar (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 2. August 2004 - 7 A 11340/04 OVG). Da es sich hierbei um unbestimmte, gerichtlich voll überprüfbare Rechtsbegriffe handelt (vgl. Bad.-Württ. VGH vom 12. Februar 1986, a.a.O.), hat der Kläger einen Anspruch darauf, dass der Widerruf unterbleibt ("ist abzusehen").