VG München

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Zitieren als:
VG München, Gerichtsbescheid vom 11.02.2005 - M 11 K 04.52157 - asyl.net: M7428
https://www.asyl.net/rsdb/M7428
Leitsatz:
Schlagwörter: Somalia, Verfolgungsbegriff, nichtstaatliche Verfolgung, Clans, Gebietsgewalt, Bürgerkrieg, Freizügigkeit, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (entspricht jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG) beschränkte Klage ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.

Zwar ist der Kläger - unabhängig davon, ob vorliegend auch die Voraussetzungen des § 26 a AsylVfG gegeben sind - nicht politisch verfolgt im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG.

Die Annahme einer politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG setzt grundsätzlich voraus, dass diese staatliche Verfolgung ist. Der staatlichen Verfolgung steht die Verfolgung durch Organisationen mit staatsähnlicher (quasi-staatlicher) Herrschaftsgewalt gleich, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen (BVerfGE 80, 315, 334; BVerwGE 101, 328; BVerwG, Urt. vom 4.11.1997 - InfAuslR 1998, 145). Quasi-staatlich ist eine Gebietsgewalt nur, wenn sie auf einer staatsähnlich organisierten, effektiven und stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruht. Effektivität und Stabilität erfordern eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft, verkörpert vorrangig in der Durchsetzungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des geschaffenen Machtapparats (vgl. BVerwG a.a.O.).

Die politische Lage in Somalia ist weiterhin durch Bürgerkrieg gekennzeichnet.

Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass jedenfalls in Süd- und Zentralsomalia keine eigentliche Staatsgewalt existiert, sondern dass die Lage weiterhin als anarchisch zu qualifizieren ist. Auch staatsähnliche Organisationen, die den Staat verdrängt haben, aber selbst staatliche Funktionen ausüben und auf ihrem Gebiet die effektive Gebietsgewalt innehaben, sind angesichts dieser Lage nicht feststellbar (vgl. auch HessVGH vom 30.10.2003 - 4 UE 4952/96.A -).

Eine politische (= staatliche) Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG ist somit schon begrifflich nicht möglich. Das nämliche galt für § 51 Abs. 1 AuslG.

Seit 1. Januar 2005 ist der frühere § 51 Abs. 1 und 2 AuslG durch § 60 Abs. 1 AufenthG abgelöst worden. Hiernach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Ausländer, die im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 kann ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Schutz wird hiernach gewährt, wenn dem Betroffenen bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der in dieser Bestimmung genannten Merkmale Rechtsverletzungen durch seinen Herkunftsstaat drohen, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzen, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in sein Herkunftsland zurückzukehren (vgl. hierzu BVerfG vom 10.7.1989, NVwZ 1990, 151 f.; BVerwG vom 29.11.1987, BVerwGE 55, 82, 83 zum früheren § 51 Abs. 1 AuslG). Insoweit kommen besonders gravierende Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit und Beeinträchtigungen der Freiheit der Person in Betracht.

Gegenüber der früheren Fassung des § 51 Abs. 1 AuslG und der hierzu ergangenen Rechtsprechung schließt aber der nunmehrige § 60 Abs. 1 AufenthG die Annahme einer politischen Verfolgung nicht mehr deshalb aus, weil diese nicht vom Staat ausgeht. Daher hat der Kläger nunmehr nach § 60 Abs. 1 AufenthG den Anspruch auf die Feststellung, dass seine Abschiebung nach Somalia wegen der ihm dort drohenden gravierenden Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit verboten ist. Dieselben Gründe, die nach der alten Rechtslage zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bezüglich Somalia geführt haben, führen nunmehr zum Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Denn ganz allgemein lässt sich für Somalia feststellen, dass es dort wegen des Bürgerkriegszustands eine Achtung vor der physischen Unversehrtheit anderer Individuen nicht gibt. Alle Clanführer und Milizenchefs ohne Ausnahme zeigen sich bei der Wahl ihrer Mittel "nicht zimperlich" (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22.8.1996). Für die persönliche Sicherheit eines Somali ist die Eingebundenheit in eine Großfamilie (Clan, Sub-Clan, Stamm) von erheblicher Bedeutung. Gefahr für Leib und Leben droht in der Regel dann, wenn diese Gruppen in einem machtpolitischen Konkurrenzverhältnis stehen (Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 22.8.1996 und vom 30.6.1997). Aufenthalte außerhalb des Gebietes des jeweils eigenen Clans bzw. eines Gebietes, das vom eigenen Clan kontrolliert wird, sind mit der Gefahr, getötet oder schwer verletzt zu werden, verbunden. Während im gesamten Norden des Landes Bewegungsfreiheit für Angehörige aller Clans herrscht, verhindern Kampfhandlungen, Willkürmaßnahmen unterschiedlicher Milizen und Verfolgungsmaßnahmen gegenüber anderen Clans in den meisten Fällen Reisen durch die zentralen und südlichen Landesteile (vgl. Auswärtiges Amt vom 17.11.2003, a.a.O., S. 11; vom 13.12.2004, S. 13).

Aufgrund dieser Sachlage ist zur Überzeugung des Gerichts mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass jedenfalls Somalier, die - wie im vorliegenden Fall - aus Zentral- oder Südsomalia stammen und die aufgrund ihrer Eingebundenheit in ihren dort beheimateten Clan auch nur dorthin zurückkehren könnten, im Falle ihrer Rückkehr lebensbedrohlichen Gefahren oder zumindest der Gefahr schwerster Verletzungen ausgesetzt wären, was die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG indiziert.

Für den Kläger besteht auch keine inländische Fluchtalternative in den nördlichen Regionen Somalias (Puntland und Somaliland). Auch wenn der Norden Somalias in den letzten Jahren eine erhebliche günstigere politische Entwicklung genommen hat als die übrigen Landesteile, besteht dort für Gebietsfremde keine Existenzmöglichkeit, da verwandtschaftliche Bindungen des Klägers dorthin nicht ersichtlich sind. Nach Auskunftslage ist eine Rückkehr nach Somaliland und Puntland allenfalls für Personen möglich, die aus der entsprechenden Region stammen und deren Überleben dort durch den Schutz einer Familie oder von Verwandten gewährleistet ist.

 

vgl. auch in der selben Sache Urteil vom 31.3.2005 - M 11 K 04.52157 - M7429