VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 03.11.2005 - 1 A 296/02 - asyl.net: M7468
https://www.asyl.net/rsdb/M7468
Leitsatz:
Schlagwörter: Vietnam, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Anerkennungsrichtlinie, Änderung der Sachlage, Flüchtlingsbegriff, Oppositionelle, exilpolitische Betätigung, subjektive Nachfluchtgründe, Genfer Flüchtlingskonvention, Non-Refoulement, Auswärtiges Amt, Lageberichte, Folter, Administrativhaft, Buddhisten, religiös motivierte Verfolgung, Situation bei Rückkehr, Einreiseverweigerung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2; GFK Art. 33 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 5
Auszüge:

Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als es dem Kläger gemäß seinem Antrag (nur) noch um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.

4. Die Anerkennung als Flüchtling (Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention, § 60 Abs. 1 AufenthG) setzt voraus, dass dem Kläger bei einer Rückführung nach Vietnam bei prognostischer Einschätzung für den Zeitpunkt September 2005 eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung droht. Das ist hier der Fall.

Mit § 60 AufenthG hat sich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/83/EG v. 30.9.2004 - L 304/12 - ein Perspektivwechsel weg von der Täter- hin zu einer Opferbetrachtung vollzogen (vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.; Urteil der Kammer v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 -). Da zudem inzwischen die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten ist, sind heute auch schon deren Standards im Wege der Auslegung richterlich beachtlich (vgl. auch EuGH, Urt. v. 9.3.2004 - C 397/01 - Pfeiffer, Rn. 101 ff), obwohl die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (vgl. dazu Hoffmann, Asylmagazin 4/2005; so auch VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - , InfAuslR 2005, S. 296 = Asylmagazin 2005, S. 28 m.w.N). Mit dem VGH Baden-Württ. aaO., dem VG Braunschweig (Urt. v. 8.2.2005 - 6 A 541/04 -), dem VG Stuttgart (aaO.), dem VG Karlsruhe (Urt. v. 14.3.2005 - A 2 K 10264/03 -) und dem VG Köln (Urt. v. 10.6.2005 - 18 K 4074/04.A - ) ist daher davon auszugehen, dass die gen. Richtlinie bereits heranziehbar ist, ohne dass hierzu allerdings schon eine Rechtspflicht besteht (BGH, NJW 1998, 2208; VGH Baden-Württ., aaO.)

4.1 Ausgangspunkt dabei ist, dass es einen objektiven Nachfluchttatbestand darstellt, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Betätigungen verändert (BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat veränderte Verhältnisse herrschen. Denn hierauf hat der Asylbewerber keinen Einfluss. Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen (Art. 5 Abs. 1 und 2) in besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen im Herkunftsland stets im Rahmen des § 28 Abs. 2 AufenthG als objektiver Nachfluchttatbestand beachtlich und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedrohungsrelevant sind.

4.1.1 Im Übrigen liegt es hier so, dass der Kläger bereits in Vietnam mehrfach von der örtlichen Polizei vorgeladen und aufgefordert worden ist, Diskussionen und Äußerungen über die politischen Verhältnissen einerseits in Deutschland und andererseits in Vietnam zu unterlassen, seine Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK, 5 GG) mithin beeinträchtigt und behindert worden ist (S. 2 des Protokolls v. 3.11.2005).

Damit handelt es sich bei der exilpolitischen Betätigung des Klägers in Deutschland, die offenbar einer in Vietnam schon gewachsenen Überzeugung entspricht, nicht etwa um einen erst "nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss" (neu) geschaffenen Nachfluchttatbestand iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG, sondern vielmehr um eine Betätigung, welche sich auf eine "Überzeugung" (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) bzw. "Ausrichtung" (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie) gründet, die bereits in Vietnam ihre Wurzeln hat ("Ausdruck und Fortsetzung" einer entsprd. "Ausrichtung", Art. 5 Abs. 2).

4.1.2 Im Übrigen ist der neu eingefügte § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht nur im Hinblick auf die Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EU L 304/12) äußerst einschränkend auszulegen (vgl. dazu die Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urteile v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -, v. 29.6.2005 - 1 A 212/02 - und v. 6.7.2005 - 1 A 4/02 - sowie v. 17.8.2005 - 1 A 233/02 -), sondern auch deshalb, weil er andernfalls mit dem Refoulementverbot des Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) und mit dem - dieses Verbot ausdrücklich umsetzenden - Sinngehalt des § 60 Abs. 1 AufenthG erheblich kollidierte:

4.2 Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - September 2005 - stellt sich die Sach- und Rechtslage gegenüber dem Zeitpunkt der bundesamtlichen Verwaltungsentscheidung des Jahres 2002 so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam sehr deutlich verschärft haben. Weiterhin ist inzwischen die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG und das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. Teil I 2004, S. 1950) beachtlich.

4.2.1 Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die "politische Einstellung des Betroffenen" abzielen und sich als Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen, kommt es auf die "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland" an sowie auf dortige Veränderungen. Somit ist eine Bedrohungslage - unter Berücksichtigung der EMRK (§ 60 Abs. 5 AufenthG) und der Richtlinie 2004/83/EG - im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f). Diesbezüglich kann auf die bisherige Rechtsprechung der Kammer Bezug genommen werden (vgl. u.a. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - und v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -), wobei folgendes betont sei:

4.2.1.1 Für eine Gesamtschau reicht es methodisch nicht aus, lediglich die Lageberichte des Auswärtigen Amtes in den Blick zu nehmen. Denn "Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ)", "Deutschland ist einer der größten bilateralen Geber Vietnams" (so die ständig aktualisierte Darstellung des Auswärt. Amtes zu den deutsch-vietnamesischen Beziehungen / Stand: Juli 2005). Hiervon abgesehen berücksichtigt z.B. der jüngste Lagebericht des AA vom 28.8.2005 nach eigener Darstellung weder den ai-Jahresbericht 2005 (Vietnam, S. 356) noch denjenigen des US-Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2004 - Vietnam - v. 28. Febr. 2005. Vielmehr werden vom Auswärtigen Amt anstelle der aktuellen Berichte nur die jeweils älteren Berichte des Vorjahres einbezogen. Der Menschenrechtsreport 38 der "Gesellschaft für bedrohte Völker" - GfbV - v. 28. April 2005 und der IGFM-Jahres-bericht 2004 werden weder erwähnt noch verwertet. Es ist fraglich, ob sonstige Presseberichte berücksichtigt sind. Damit ist die Aussagekraft der Lageberichte des AA stark eingeschränkt, da die neuere Entwicklung in Vietnam, wie sie von anderen Seiten berichtet wird, nur sehr unzureichend wahrgenommen und dargestellt ist.

Somit müssen gerade mit Blick auf die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam und die unzureichende Aussagekraft der Lageberichte des AA auch andere Erkenntnisse - nach Möglichkeit solche aus einer breit gestreuten Vielfalt von Quellen - in eine richterlich ausgewogene Bewertung einbezogen und ausgewertet werden.

4.2.1.2 Selbst nach den letzten Lageberichten des AA (v. 28.8.2005 und v. 12.2.2005) ist es jedoch so, dass regierungskritische Aktivitäten in Vietnam mit "größter Aufmerksamkeit" und ggf. sogar eben auch mit polizeilich-justiziellen Maßnahmen "verfolgt", öffentliche Kritik an Partei und Regierung und die Wahrnehmung von Grundrechten nicht toleriert werden und Dissidenten Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt sind. Aktive Gegner des Sozialismus können nach den weit gefassten und (willkürlich) weit verstandenen Vorschriften jederzeit inhaftiert und bestraft werden. Amnestien des Jahres 2005 (vgl. dazu die Pressemitteilung des AA v. 8.9.2005) verweisen insoweit "nicht auf einen grundsätzlichen Wandel" der Lage in Vietnam (ebenso Lagebericht AA v. 28.8. 2005).

4.2.1.3 Für die erforderliche Gesamtschau und -bewertung ist die Einschätzung von Sachkennern, Gutachtern und Beobachtern der vietnamesischen Verhältnisse zu berücksichtigen, die in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt ist (vgl. z.B. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - und v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -). Darauf kann hier Bezug genommen werden.

4.2.2 Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer erhöhten Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, entspricht das zum einen nicht mehr den neueren Tatsachen, wie sie aus Vietnam von Sachverständigen berichtet werden (s.o.), und steht das zum andern im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/EG, derzufolge es "unerheblich" sein soll, "ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist."

Soweit in diesem Zusammenhang ergänzend darauf verwiesen wird, eine Einreiseverweigerung sei wahrscheinlicher als eine Verfolgung in Vietnam, ist zu betonen, dass auch eine solche Verweigerung der Einreise als politische Verfolgung zu werten wäre. Vgl. insoweit das VG Magdeburg, Urt. v. 30.1.2002 - 9 A 155/02 - "Die Verweigerung der Wiedereinreise stellt für den Kläger politische Verfolgung dar. In der

Rechtsprechung des BverwG ist geklärt, dass die Verweigerung der Wiedereinreise, soweit sie an asylerhebliche Merkmale anknüpft, politische Verfolgung darstellen kann, denn der Staat entzieht seinem Staatsbürger hiermit wesentliche staatsbürgerliche Rechte und grenzt ihn so aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit aus."

Im Übrigen kommt es auf eine solche Verweigerungshaltung des vietnamesischen Staates nicht an. vgl. insoweit VG München, Urt. v. 13.8.2003 - M 17 K 03.50661 - Asylmagazin 2003, S. 30: "Die Auffassung des Auswärtigen Amtes, vor einer Bestrafung sei mit der Verweigerung der Einreise zu rechnen, spielt keine Rolle. Das Gericht hat die Verfolgungswahrscheinlichkeit für den Fall einer tatsächlichen Rückkehr zu beurteilen."

4.2.4 Verfolgungsmaßnahmen könnten dem Kläger aber auch deshalb drohen, weil er buddhistischen Glaubens ist (vgl. Anhörung v. 2.7.2002):

4.2.5 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. ,,administrative Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt. Auch dieser Aspekt ist in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).