VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 23.05.2005 - 8 K 3072/03 - asyl.net: M7489
https://www.asyl.net/rsdb/M7489
Leitsatz:
Schlagwörter: Freizügigkeit, Unionsbürger, Drittstaatsangehörige, Familienangehörige, Kinder, Personensorge, nichteheliche Lebensgemeinschaft, unerlaubte Einreise, Existenzminimum
Normen: FreizügG/EU § 5 Abs. 2; RL 68/360 Art. 4 Abs. 2; RL 68/360/EWG Art. 4 Abs. 4; VO 1612/68/EWG Art. 10; VO 1612/68/EWG Art. 7 Abs. 2; EG Art. 12 Abs. 1; RL 90/364/EWG Art. 1; AufenthG § 3 Abs. 1
Auszüge:

Die Klage ist insgesamt auch begründet.

Zwar kann die Klägerin zu 1. als ledige Lebenspartnerin des niederländischen Klägers zu 2., der im Bundesgebiet Arbeitnehmer ist und damit sein Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art. 39 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25. März 1957 in der Fassung des Amsterdamer Vertrags vom 2. Oktober 1997 (EG) wahrnimmt, ein Aufenthaltsrecht nicht bereits unmittelbar aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO 1612/68/EWG für sich beanspruchen.

Aus den gleichen Erwägungen scheidet - unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit dieser Richtlinie - auch ein Aufenthaltsrecht aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie Nr. 90/364 des Rates der EWG über das Aufenthaltsrecht vom 28. Juni 1990 (RL 90/364/EWG) aus. Die Klägerin zu 1. ist als nichteheliche Lebenspartnerin keine Familienangehörige des Klägers zu 2. im Sinne des Abs. 2 dieser Vorschrift. Ebenso wenig ist sie Familienangehörige der Kläger zu 3. und 4. Denn Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der RL 90/364/EWG setzt voraus, dass es sich um Verwandte des Aufenthaltsberechtigten in aufsteigender Linie handelt, "denen er Unterhalt gewährt". Maßgeblich ist dabei die tatsächliche Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Familienangehörige vom Aufenthaltsberechtigten materiell unterstützt wird (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2004 -C-200/02- (Chen), DVBI. 2005, 100 ff. und www.curia.eu.int/, Rdnr. 42-44).

Die minderjährigen Kläger zu 3. und 4. sind zwar im Besitz einer vom Beklagten ausgestellten Aufenthaltserlaubnis-EU und damit zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Jedoch gewähren sie der Klägerin zu 1. nicht, wie von dieser Vorschrift vorausgesetzt, Unterhalt.

Der Klägerin zu 1. steht allerdings ein von dem Aufenthaltsrecht der Kläger zu 3. und 4. abgeleitetes Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet aus Art. 10 der VO 1612/68/EWG zu.

Nach der Rechtsprechung des EuGH können nämlich in Fällen, in denen das Gemeinschaftsrecht einem minderjährigen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ein Aufenthaltsrecht im einem Aufnahmemitgliedstaat verleiht, dieselben Vorschriften auch dem drittstaatsangehörigen Elternteil, der die Personensorge für den minderjährigen Unionsbürger tatsächlich wahrnimmt, erlauben, sich mit diesem im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten.

Die Kläger zu 3. und 4. genießen in erster Linie ein von ihrem Vater, dem Kläger zu 2., abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO 1612/68/EWG. Der Kläger zu 2. geht als niederländischer Staatsangehöriger im Bundesgebiet einer unselbständigen Beschäftigung nach und ist damit Arbeitnehmer im Sinne der Art. 1 und 10 der VO 1612/68/EWG, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist. Demnach dürfen die minderjährigen Kläger zu 3. und 4. als Familienangehörige des Arbeitnehmers -Verwandte in absteigender Linie unter 21 J a h r e - ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit bei diesem Wohnung nehmen. Dass die Eltern der Kläger zu 3. und 4. nicht verheiratet sind, ist ohne Belang, da es ausreicht, dass der Vater Arbeitnehmer im Sinne der Art. 1 und 10 der VO 1612/68/EWG ist (vgl. EuGH, Urteil vom 17. September 2002 -C-413/99- (Baumbast und R), a.a.O., Rdnr. 58 ff.).

Eines Rückgriffs auf das den Klägern zu 3. und 4. als niederländische Staatsangehörige und damit Unionsbürger im Sinne von Art. 17 Abs. 1 EG durch Art. 18 Abs. 1 EG grundsätzlich auch garantierte allgemeine Freizügigkeitsrecht, das jedem Unionsbürger das Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im EG-Vertrag und in seinen Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen unmittelbar zuerkennt, bedarf es bei dieser Sachlage nicht.

Der danach hier allein als Maßstab heranzuziehende Art. 10 der VO 1612/68/EWG, der den minderjährigen Klägern zu 3. und 4. ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verleiht, ist ebenfalls dahin auszulegen, dass er auch der Klägerin zu 1., die für die Kläger zu 3. und 4. die tatsächliche Personensorge ausübt, erlaubt, bei diesen im Bundesgebiet Aufenthalt zu nehmen, um ihnen die Wahrnehmung ihres eigenen Aufenthaltsrechts zu ermöglichen.

Weitere Anforderungen - namentlich wie sie Art. 1 der RL 90/364/EWG enthält - sind entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten für die Zuerkennung eines Aufenthaltsrechts der Klägerin zu 1. nicht zu stellen.

Rechtlicher Anknüpfungspunkt für das Aufenthaltsrecht der Klägerin zu 1. ist allein das Aufenthaltsrecht der Kläger zu 3. und 4. aus Art. 10 der VO 1612/68/EWG.

Insbesondere sind auch nicht die in Art. 1 Abs. 1 der RL 90/364/EWG für die Gewährung eines Aufenthaltsrechts aufgestellten Bedingungen, dass der Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügen muss, für das hier aus Art. 10 der VO 1612/68/EWG folgende Aufenthaltsrecht der Klägerin zu 1. zu berücksichtigen bzw. entsprechend heranzuziehen.

Ferner kann der Klägerin zu 1. ihre nach nationalem Recht unerlaubte Einreise auch nicht - mehr - anspruchsvernichtend entgegengehalten werden. Zwar ist die Klägerin zu 1. im November 2002 ohne den erforderlichen Pass (vgl. § 4 Abs. 1 AuslG, heute § 3 Abs. 1 AufenthG) und ohne die erforderliche Aufenthaltsgenehmigung bzw. den erforderlichen Aufenthaltstitel (§ 3 Abs. 1 AuslG, heute § 4 AufenthG) und damit gemäß § 58 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG bzw. § 14 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist. Jedoch hat sie nach ihrer Einreise mit der Geburt der Kläger zu 3. und 4. ein von diesen abgeleitetes unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht, namentlich aus Art. 10 Abs. 1 der VO 1612/68/EWG folgendes Aufenthaltsrecht erworben.

Dementsprechend ist nach der Rechtsprechung des EuGH Art. 4 der RL 68/360/EWG auch dahin auszulegen, dass er es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, dem Staatsangehörigen eines Drittstaats, der seine Identität und die Tatsache, dass er mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet ist, nachweisen kann, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu verweigern und ihm gegenüber Maßnahmen zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zu ergreifen, nur weil er zuvor illegal in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats eingereist ist.

Die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis-EU bemisst sich in entsprechender Anwendung des Art. 4 Abs. 4 der RL 68/360/EWG und des Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie des Rates der EWG zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs vom 21. Mai 1973 (RL 73/148/EWG), nach der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis-EU ihrer Kinder (vgl. EuGH, Urteil vom 11. April 2000 -C-356/98- (Kaba I), Slg. 2000, I-2623 ff., Rdnr. 22).

Nach diesen Vorschriften wird einem Familienmitglied, das nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, ein Aufenthaltsdokument mit der gleichen Gültigkeit ausgestellt wie dem Arbeitnehmer bzw. Staatsangehörigen, von dem es seine Rechte herleitet. Den Bestimmungen lässt sich der allgemeine Grundsatz entnehmen, dass sich die Geltungsdauer abgeleiteter Aufenthaltsrechte von Familienangehörigen regelmäßig nach der Geltungsdauer des jeweiligen "Stammrechts" richtet. Vorliegend leitet die Klägerin zu 1. ihr Aufenthaltsrecht allerdings nicht von dem Recht des Klägers zu 2. ab, auch wenn dieser als Arbeitnehmer letztlich das "Stammfamilienmitglied" ist, sondern von dem ihrer Kinder, der Kläger zu 3. und 4., die im Besitz einer bis zum 29. August 2008 gültigen Aufenthaltserlaubnis-EU sind.