VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 28.11.2005 - A 4 K 13001/05 - asyl.net: M7519
https://www.asyl.net/rsdb/M7519
Leitsatz:

Kein Widerruf von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für Anhänger der Hisbollah; trotz verbesserter Menschenrechtslage in der Türkei besteht immer noch die reale Möglichkeit von Folter oder menschenrechtswidriger Behandlung für Anhänger staatsfeindlicher Organisationen.

 

Schlagwörter: Widerruf, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Türkei, Hisbollah, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Sicherheitskräfte, Folter, menschenrechtswidrige Behandlung, Oppositionelle
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3; AuslG § 53 Abs. 4; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3
Auszüge:

Kein Widerruf von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für Anhänger der Hisbollah; trotz verbesserter Menschenrechtslage in der Türkei besteht immer noch die reale Möglichkeit von Folter oder menschenrechtswidriger Behandlung für Anhänger staatsfeindlicher Organisationen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 3 AsylVfG liegen nach dem maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) nicht vor.

Nach den in der mündlichen Verhandlung erörterten und zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln liegen die Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 AuslG und nunmehr des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nach wie vor.

Die vom Gericht hiernach vorzunehmende qualifizierte und bewertende Betrachtungsweise kommt im vorliegenden Fall nach Auswertung der jüngsten Erkenntnisquellen nicht umhin festzustellen, dass für den Kläger nach wie vor eine konkret-individuelle Gefahr besteht, denn es ist davon auszugehen, dass nach ihm weiter wegen der (vermeintlichen) Unterstützung der Hizbollah gefahndet wird mit dem Ziel, eine strafgerichtliche Verurteilung durchzusetzen, und er deshalb jederzeit im Kontext seiner Wiedereinreise bzw. auch danach mit einer Verhaftung rechnen muss. Vor diesem Hintergrund ist es nicht von der Hand zu weisen, dass bei den zu erwarteten Verhören versucht werden wird, Informationen über seine Kontakte im Ausland und frühere Kontakte zur Hizbollah zu erlangen. Nach den verwerteten Erkenntnisquellen ist nach wie vor davon auszugehen, dass die Sicherheitsorgane dabei in erheblichem Umfang physischen und psychischen Druck, der die Qualität von Menschenrechtsverletzungen und auch von Folter annehmen kann, anwenden. Trotz der auf den massiven Druck der EU in jüngster Zeit stattgefundenen gesetzlichen Verbesserungen liegen zahlreiche Erkenntnisquellen vor, die für die Jahre 2004 und 2005 weiterhin von einer erheblichen Zahl von Folterungen und anderen vergleichbaren Menschenrechtsverletzungen berichten (vgl. Kaya v. 10.09.2005 an VG Magdeburg, v. 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Aydin v. 25.06.2005 an VG Sigmaringen; ai v. 20.09.2005 an VG Sigmaringen; ai Länderkurzbericht Türkei - asyl-info 7-8/2005; SFH v. 18.05.2005). Selbst das Auswärtige Amt (Lagebericht v. 03.05.2005, 28) weist darauf hin, dass zwar ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen sei, bezogen auf das Ende 2004 wird jedoch festgestellt, dass es noch nicht gelungen sei, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden. Diese insgesamt eher positive Einschätzung, die auch für die Vergangenheit speziell für Rückkehrer keine verifizierten Misshandlungen umfasste, ist aber durch die vorgenannten neueren Erkenntnisquellen grundsätzlich und im Ergebnis mit Erfolg in Frage gestellt worden. Wenn dann noch die EU-Kommission in ihren "wichtigsten Ergebnissen des Fortschrittberichts Türkei 2005" v. 09.11.2005 ausführt, dass Menschenrechtsverletzungen zwar seltener geworden seien, aber immer noch vorkämen und es dringend notwendig sei, dass die geltenden Rechtsvorschriften auch tatsächlich angewandt würden, wobei nach Einschätzung der Kommission auch noch weitere gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen werden müssten, so bestätigt dies die vorgenommene Einschätzung. Denn hierbei kann auch nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben, dass derartige Äußerungen im Rahmen eines diplomatischen Diskurses zwischen Völkerrechtssubjekten abgegeben werden und daher auch die dort gewählte Sprache und Diktion sich eher eine gewisse Zurückhaltung auferlegen wird, um den politisch seitens der Gemeinschaft gewollten Annäherungsprozess nicht zu gefährden oder zumindest zu belasten. Dies wird auch bei den Äußerungen des Auswärtigen Amtes nicht anders sein, womit in beiden Fällen nicht gesagt werden soll, dass diese Stellungnahmen falsch sein müssen.

Das Gericht schätzt die Lage zusammenfassend so ein, dass es wirkliche oder vermeintliche Anhänger staatsfeindlicher Organisationen, nach denen gesucht wird, - gewissermaßen jederzeit und überall (d.h. auch landesweit) treffen kann, auch wenn es sicherlich richtig ist, dass in diesem Zusammenhang statistisch gesehen von einer Wahrscheinlichkeit von über 50 v.H. nicht gesprochen werden kann. Die Bedrohung besteht jedoch in einer Allgegenwärtigkeit, die unter dem Aspekt eines effektiven Schutzes der Menschenrechte, der gerade auch in dem oben dargestellten qualitativ-wertenden Prognosemaßstab seine zutreffende Ausprägung findet, den Betroffenen ein nicht zumutbares Risiko aufbürden würde.