VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 22.11.2005 - 12 K 2469/04 - asyl.net: M7525
https://www.asyl.net/rsdb/M7525
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausreisehindernis, abgelehnte Asylbewerber, psychische Erkrankung, Suizidgefahr, Schutz von Ehe und Familie, Integration, EGMR, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Privatleben, Aufenthaltsdauer, rechtmäßiger Aufenthalt, Mitwirkungspflichten
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; GG Art. 1; GG Art. 2 Abs. 2; GG Art. 6; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die Klagen sind zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten. Sie haben gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnisse aus humanitären Gründen.

2. Die Tatbestandsvoraussetzungen der bei inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 25 Abs. 5 AufenthG für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis liegen bei allen Klägern vor.

a) Die Kläger sind im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aufgrund der unanfechtbaren Ablehnung ihrer Asylerstanträge schon seit dem Jahr 1998 vollziehbar ausreisepflichtig (vgl. §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Ihre Ausreise ist zudem, wenn auch möglicherweise nicht objektiv unmöglich, so doch jedenfalls - wegen der schweren psychischen Erkrankung der Klägerin zu 2 und damit gemessen an Art. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 bzw. Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK - aus rechtlichen Gründen unzumutbar; das genügt für die Erfüllung des Tatbestandes dieser Vorschrift (vgl. HTK-AuslR, § 25 Abs. 5 AufenthG, Rn. 2.4 (Zugriff: 22.11.05); Benassi, InfAuslR 2005, 357). Da die Abschiebung aller Kläger nunmehr seit Oktober 1999 aufgrund des Beschlusses des erkennenden Gerichts vom 07.10.1999 in der Verwaltungsrechtssache A 5 K 12529/99, und also deutlich länger als nur 18 Monate, ausgesetzt ist, weswegen seit vielen Jahren sog. "Kettenduldungen" erteilt werden, muss ihnen im Sinne des intendierten Ermessens des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG ("soll") eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Das Vorliegen eines atypischen Sonderfalles ist weder von dem Regierungspräsidium oder der Beklagten behauptet worden noch sonst ersichtlich.

b) Die Kläger sind im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG auch unverschuldet an der Ausreise gehindert. Grund der gerichtlichen Abschiebungsaussetzung vom 07.10.1999 war die schwere psychische Erkrankung und Suizidalität der Klägerin zu 2, die damals amts- und fachärztlich festgestellt wurde, bzw. das daraus abgeleitete Verbot des Auseinanderreißens der Großfamilie (vgl. A 5 K 12529/99, Beschlussabdruck S. 3 f.).

3. Nur ergänzend wird zu dem Vortrag der Kläger zu Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgeführt: Die Kläger besitzen auch nach diesem Menschenrecht i.V.m. § 25 Abs. 5 AufenthG einen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen. Denn sie können sich im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die - ebenso wie die EMRK - von den nationalen Behörden und Gerichten zu berücksichtigen ist und worüber auch das Bundesverfassungsgericht wacht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 (Görgülü), NJW 2004, 3407), auf ein spezifisch europarechtliches Recht auf Verbleib berufen, weswegen ihre Ausreise hier aus rechtlichen Gründen unmöglich ist.

a) Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist eröffnet. Zwar gewährt Art. 8 EMRK kein Recht, den am besten geeigneten Ort zu wählen, um ein Familienleben aufzubauen (vgl. EGMR, Urt. v. 07.10.2004 - 33743/03 - (Dragan/Deutschland), NVwZ 2005, 1043). Nach diesem Menschenrecht hat jedoch jedermann Anspruch insbesondere auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Die als Kleinkinder nach Deutschland gekommenen und hier vollständig integrierten Kläger zu 3-6 können sich hierauf ("Achtung des Privatlebens") berufen. Da sie derzeit auf ihre Eltern angewiesen sind, greift Art. 8 Abs. 1 EMRK auch für die Kläger zu 1 und 2 ("Achtung des Familienlebens"). Dass in diesem Fall die Eltern ihr diesbezügliches Aufenthaltsrecht von dem der Kinder ableiten, ist europarechtlich anerkannt (vgl. EuGH, Urt. v. 19.10.2004, Rs. C-200/02 - Zhu u. Chen -, Rn. 45) und entspricht - angesichts der grundrechtlich geschützten wechselseitigen familiären Bindungen - auch dem deutschen Grundgesetz (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.11.2005 - 2 BvR 524/01 -, Rn. 31).

Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist für die Kläger zu 3-6 eröffnet, weil sie sich insoweit auf ein "Recht auf Heimat" berufen können (ausführlich: VG Stuttgart, Urt. v. 11.10.2005 - 11 K 5363/03 -, S. 7 ff., m.w.N.) bzw. weil sie zu sog. "faktischen Inländern" geworden sind. Die bloße Tatsache, dass ein Ausländer sich über längere Zeit in Deutschland aufhält, macht ihn allerdings noch nicht zu einem faktischen Inländer. Diese Annahme setzt vielmehr außer einem mehrjährigen Aufenthalt, dessen Mindestdauer nicht abstrakt definiert werden kann, aber wohl zumindest fünf Jahre (vgl. etwa § 9 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) und wohl maximal acht Jahre (vgl. etwa § 10 Abs. 1 StAG) betragen sollte, eine vollständige Integration in das hiesige wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben im Sinne einer "Verwurzelung" voraus (vgl. auch § 43 Abs. 1 AufenthG). Dazu gehört regelmäßig, dass der Ausländer gute deutsche Sprachkenntnisse besitzt, über ausreichenden Wohnraum verfügt, seinen Lebensunterhalt einschließlich ausreichendem Krankenversicherungsschutz ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann und sich während seines gesamten Aufenthalts in Deutschland keine wesentlichen Straftaten hat zuschulden kommen lassen. Für eine gelungene Integration dürfte es ferner mit entscheidungserheblich sein, dass er einen Arbeitsplatz besitzt oder, soweit es sich um Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene handelt, sich in einer Ausbildung befindet, die zumindest die Chance auf einen späteren Arbeitsplatz eröffnet. Eine Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben in Deutschland (politisches, kulturelles, religiöses/kirchliches Engagement, Aktivitäten in Vereinen und Verbänden) ist positiv zu berücksichtigen, aber nicht unerlässlich.

Ob ein Ausländer im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK als faktischer Inländer zu betrachten ist, hängt weiter davon ab, über welche Beziehungen er zu dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, noch verfügt, d.h. ob er insoweit gewissermaßen dergestalt "entwurzelt" ist, dass eine Reintegration nicht zumutbar erscheint. Diesbezüglich hat die Kenntnis der dortigen Sprache und die Vertrautheit mit den Verhältnissen in diesem Land sowie die Existenz dort noch lebender und aufnahmebereiter Verwandter mit entscheidungserhebliche Relevanz (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 02.11.2005 - 1 S 3023/04 -, S. 6, m.w.N.).

b) Im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Ausweisungs- und Abschiebungspraxis der Vertragsstaaten (siehe hierzu die Nachweise in BVerfG, Kammerbeschluss vom 01.03.2004 - 2 BvR 1570/03 -, NVwZ 2004, 852 (853)) dürfte es für den Schutzbereich des Anspruches auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK nicht ausschlaggebend sein, ob der Aufenthalt des Ausländers - im Sinne einer Art "Handreichung des Staates" - zumindest vorübergehend rechtmäßig war bzw. inwieweit die hiesigen Behörden durch ihr Verhalten dazu beigetragen haben, dass der Aufenthalt des Betreffenden bislang nicht beendet wurde (vgl. auch EGMR, Urt. v. 16.06.2005 - 60654/00 - (Sisojewa/Lettland), InfAuslR 2005, 349; offen gelassen: VGH Bad.-Württ., a.a.O.). Denn "faktischer" Inländer und damit grundsätzlich durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützt ist, wer faktisch hier geboren oder aufgewachsen und im obigen Sinne vollständig in die Gesellschaft integriert ist.

Die Frage der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts kann aber im Rahmen der Schrankenprüfung Berücksichtigung finden. Denn gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Rechte aus Absatz 1 der Norm statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist (vgl. hierzu: Meyer-Ladewig, Hk-EMRK, 2003, Art. 8 Rn. 25; Wildhaber/Breitenmoser, IntKomm, 4/1992, Art. 8 Rn. 436 ff.). Ein Eingriff in diese Rechte auf der Grundlage insbesondere des Aufenthaltsgesetzes kann in diesem Sinne notwendig und verhältnismäßig sein, wenn der Betreffende Bemühungen der Behörde, ihn in sein Heimatland abzuschieben, etwa durch hartnäckige Weigerung, an der Beschaffung der für eine Abschiebung erforderlichen Identitätspapiere mitzuwirken, unterlaufen hat. Anders können die Dinge etwa in Fällen liegen, in denen die Abschiebung des Ausländers während eines längeren Zeitraums gemäß § 54 AuslG bzw. § 60 a AufenthG oder einem anderen nicht unter diese Vorschrift fallenden ausländerrechtlichen Erlass ausgesetzt gewesen ist, oder die Behörde aus anderen Gründen davon abgesehen hat, den Ausländer in sein Heimatland abzuschieben, obwohl sie dazu rechtlich und tatsächlich in der Lage gewesen wäre.