VG Koblenz

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Zitieren als:
VG Koblenz, Urteil vom 29.11.2005 - 7 K 1279/05.KO - asyl.net: M7555
https://www.asyl.net/rsdb/M7555
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Kosovo wegen Gefahr der Retraumatisierung.

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Gorani, Wiederaufgreifen des Verfahrens, neue Beweismittel, fachärztliches Gutachten, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Suizidgefahr, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 1
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Kosovo wegen Gefahr der Retraumatisierung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, durch den die vormals einschlägige Regelung des § 53 Abs. 6 AuslG unverändert in das neue Zuwanderungsrecht übernommen worden ist, kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht der Klägerin im Falle ihrer Abschiebung nach Serbien und Montenegro dort alsbald nach der Ankunft eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes.

Nach den auf der Grundlage mehrerer Untersuchungstermine über insgesamt ca. 5 Stunden getroffenen, detaillierten, schlüssigen und in sich widerspruchsfreien Feststellungen des umfänglichen Gutachtens Dr. Gierlichs vom 30. Mai 2005, auf das wegen der Einzelheiten insoweit Bezug genommen wird, leidet die Klägerin an einer komplexen traumatischen Störung mit den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie komorbiden Störungen, einer Somatisierung und einer schweren depressiven Symptomatik. Die Ursachen der Erkrankung liegen nach dem Gutachten in einer im Heimatland erlittenen sequenziellen Traumatisierung mit einer geschlechtsspezifischen Gewalterfahrung durch einen Serben als schwerstem Trauma-Ereignis.

Ob vorliegend im Falle einer Abschiebung der Klägerin nach Serbien und Montenegro und des damit zwangsläufig verbundenen Abbruchs der hier begonnenen Therapie eine wesentliche Gesundheitsverschlechterung im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG schon deshalb drohen würde, weil in Serbien und Montenegro posttraumatische Belastungsstörungen oder ähnliche Krankheitsbilder generell aufgrund des schlechteren medizinischen Standards nicht ausreichend behandelt werden können (vgl. zum aktuellen Erkenntnisstand diesbezüglich etwa den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom.22. November 2005, Seite 20), kann letztlich offen bleiben.

Losgelöst davon droht der Klägerin nach den Feststellungen des Gutachters Dr. Gierlichs jedenfalls im Falle einer Abschiebung nach Serbien und Montenegro aufgrund ihrer derzeit fehlenden psychischen Belastbarkeit in Verbindung mit der Verbringung in eine Situation, in der ständig alte traumatische Reize "getriggert" werden, eine erhebliche Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes, die im konkreten Fall zu der "großen Wahrscheinlichkeit" (siehe Seite 41 des Gutachtens) suizidaler Handlungen führen würde. Dass dem vorliegend erfolgreich durch den Einsatz von Gegenfaktoren entgegengewirkt werden könnte, insbesondere mittels der vom Gutachter als erforderlich angesehenen Inempfangnahme der Klägerin noch am Ankunftsflughafen und sofortiger Behandlung durch einen psychiatrisch erfahrenen Arzt (siehe Gutachten, Seite 39), erscheint angesichts der grundsätzlichen Begrenzung des öffentlichen Gesundheitswesens auf eine medikamentöse Betreuung psychischer Erkrankungen und darüber hinaus nur vereinzelt vorhandener und regelmäßig nur gegen Entgelt tätig werdender privater Fachärzte (siehe näher AA, Lagebericht vom 22. November 2005, Bl. 20) nicht ausreichend gewährleistet.