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VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 04.11.2005 - 2 A 329/04 - asyl.net: M7582
https://www.asyl.net/rsdb/M7582
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Kurdin aus Nordirak wegen Gefahr der Verfolgung durch Familienangehörige, da sie gegen den Willen ihrer Familie geheiratet hat; kein staatlicher Schutz im Nordirak vor Angriffen wegen der "Familienehre"; keine inländische Fluchtalternative; mangelhafte Ernährungssituation insbesondere für Kinder.

 

Schlagwörter: Irak, Kurden, alleinstehende Frauen, alleinerziehende Frauen, Kinder, nichtstaatliche Verfolgung, Familienangehörige, Ehrenmord, Situation bei Rückkehr, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Nordirak, interne Fluchtalternative, Versorgungslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Kurdin aus Nordirak wegen Gefahr der Verfolgung durch Familienangehörige, da sie gegen den Willen ihrer Familie geheiratet hat; kein staatlicher Schutz im Nordirak vor Angriffen wegen der "Familienehre"; keine inländische Fluchtalternative; mangelhafte Ernährungssituation insbesondere für Kinder.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Entscheidung des Bundesamtes verletzt insoweit die Rechte der Kläger, weil sie Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG haben. Den Klägern droht, wegen der unzureichenden Sicherheitslage in Irak eine konkrete Schädigung von Gesundheit und Leben, wenn sie jetzt nach Irak zurückkehren müssten. Ausgehend von der Tatsache, dass die Klägerin zu 1) als allein stehende Frau mit ihren zwei Kindern der Verfolgung ihrer Familie wegen Verletzung der Familienehre ausgesetzt ist, hat sie hier in Deutschland Anspruch auf Schutz vor dieser Verfolgung zu erhalten nach § 60 Abs. 1 a.a.O.

Die Kammer glaubt der Klägerin zu 1), dass sie ihren Mann im Jahr 1992 gegen den Willen ihrer Eltern ein Eheversprechen abgegeben und mit ihm den Wohnort ihrer Eltern verlassen hat. Zwar ist zutreffend, dass es den gewöhnlichen Verhältnissen in einem islamischen, konservativ geprägten Land wie Irak und dazu noch dem Volksstamm der Kurden widerspricht, dass ein junges Mädchen gegen den Willen der Familie einen jungen Mann ein Eheversprechen gibt und ihm folgt und ihn später auch heiratet. Wie aus den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln ersichtlich wird, wird eine Ehe in islamischen Ländern regelmäßig durch die Familien gestiftet und nicht auf eine Liebesbeziehung zwischen zwei Partnern gegründet. Aus der Literatur - insbesondere der Kairo-Triologie von Mahfus - ist bekannt, dass auch in konservativ islamischen Kreisen es durchaus üblich ist, dass Kinder verschiedenen Geschlechtes unterschiedlicher Familien miteinander umgehen können, bis sie ein gewisses Alter erreicht haben. Die Klägerin zu 1) hat geschildert, wie ihr Ehemann es geschafft hat, mit ihr später im schriftlichen Kontakt zu bleiben, indem die Schwester als Mittlerin genutzt wurde.

Wie sich insbesondere aus den Auskünften des Deutschen Orient-Institutes vom 23.01.2002/31.05.2001 ergibt, ist die so genannte Familienehre ein hohes Gut in den kurdischen Gebieten Iraks. Die Stellung der Frau war und ist in eklatanter Weise benachteiligt. Von einem Selbstbestimmungsrecht der Frau kann nicht im Ansatz die Rede sein. Weder wird ihr in ausreichendem Maße der Zugang zu Bildungseinrichtungen gewährt, noch kann sie über ihr Schicksal - insbesondere über eine Heirat - selbst entscheiden, auf jeden Fall, soweit sie aus konservativ geprägten islamischen Familien stammt. Über die gegenwärtige Situation der Frauen hat UNHCR in Berichten vom September 2005 und November 2005 in eindringlicher Weise geschrieben. Danach ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1) und ihre Kinder bei Rückkehr ohne Zweifel den Nachstellungen der Familie ausgesetzt sind. Dagegen kann sich die Klägerin zu 1) als zu der Gruppe der allein stehenden Frauen mit Kindern, die sich gegen die Tradition der Familie wendet, nicht wehren, sie wird auch keinen Schutz in Irak bekommen. Dies belegt auch das Schreiben vom 21.06.2005, das die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat. Nach sechs Jahren ist es der irakischen Polizei nicht gelungen, die an dem Überfall Beteiligten aufzugreifen und einer gerichtlichen Bestrafung zuzuführen. Abgesehen davon ist aber die Kammer aufgrund der vorliegenden Auskünfte überzeugt davon, dass der Staat auch gar nicht fähig wäre, die Klägerin und ihre Kinder wirksam von den Nachstellungen der Familie der Klägerin zu 1) in Schutz zu nehmen. Obwohl in den ehemals kurdischen Autonomiegebieten Nordiraks Vorschriften im Strafgesetz existieren, die Ehrenmorde wie die hier in Rede stehenden unter Strafe stellen, kommt es dort - wie UNHCR ausführt - immer wieder zu weitgehend ungesühnten Morden, die mit der Wiederherstellung der persönlichen bzw. Familienehre gerechtfertigt werden. Das irakische Personenstands- und Familienrecht ist überwiegend von traditionellen Scharia-Regelungen geprägt, die die rechtliche Stellung der Frauen in vielfacher Hinsicht beeinträchtigen. So ist es schon für die männlich dominierten Sicherheitskräfte zur Überzeugung der Kammer nicht nahe liegend, eine schutzsuchende Frau wie die Klägerin zu 1) mit ihren Kindern vor den lebensbedrohenden Nachstellungen der Familie zu schützen. Innerhalb der derzeitigen Strukturen finden Opfer wie die Kläger derzeit keinen effektiven Rechtsschutz in Irak. Die Kläger können auf eine inländische Fluchtalternative nicht verwiesen werden. Zum einen sind die Strukturen im Land insgesamt gleich, was die Situation der Klägerin zu 1) und ihre Kinder anbelangt. Andererseits ist nach einem Bericht von UNHCR - September 2005 - die Rückkehr sozial schwacher Personengruppen vor allem auch in den Zentral- und Südirak - nur dies käme als Fluchtalternative für die Kläger in Betracht - derzeit nicht möglich, weil sie hier soziale Integration mit ausreichender Versorgung mit den notwendigsten Gütern des Lebens nicht finden werden. Eine Rückkehr von Personen ist nach Einschätzung der Kammer in Anlehnung an die Ausführungen von UNHCR nur dann möglich, sofern die betreffenden Personen vor Ort in familiäre oder andere soziale Strukturen eingebunden werden können, die Schutzfunktionen übernehmen und den betreffenden Rückkehrern Zugang zu Wohnmöglichkeiten und den sonstigen Grundversorgungsdiensten verschaffen. Daran fehlt es für die Kläger. In Zentral- und Südirak sind sie auf sich selbst gestellt. Die übrigen Gebiete stellten sich nicht als ernst zu nehmende Schutzalternative dar. Es ist nicht zu erwarten, dass die Klägerin zu 1) mit zwei kleinen Kindern eine Unterkunft, geschweige denn eine Arbeitsstelle finden könnte, um für die Ernährung der Familie sorgen zu können. Die Ernährungssituation ist in Irak insgesamt mangelhaft. Diese Situation hat zu einer weiten Verbreitung krankhafter Ernährungsstörungen insbesondere bei Kindern geführt. Nach Angaben von Unicef ist jedes dritte Kind in Irak chronisch unterernährt und nicht altersgerecht entwickelt. Dies führt zu einer erhöhten Anfälligkeit im Hinblick auf Erkrankungen. Jedes achte Kind in Irak erreicht gegenwärtig nicht das achte Lebensjahr. Diese Probleme treffen die Klägerin zu 1) bei Rückkehr mit ihren Kindern nach Irak massiv. Diesen körperlichen, seelischen und lebensbedrohlichen Gegebenheiten ist sie derzeit nicht auszusetzen, den Klägern ist deshalb sekundärer Schutz in Deutschland zu gewähren.