VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 28.09.2005 - M 26 K 03.52130 - asyl.net: M7592
https://www.asyl.net/rsdb/M7592
Leitsatz:

Gefahren wegen HIV-Infektion stellen in Äthiopien eine allgemeine Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar; extreme Gefahrenlage, da Finanzierung der antiretroviralen Behandlung nicht möglich.

 

Schlagwörter: Äthiopien, HIV/Aids, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Gefahren wegen HIV-Infektion stellen in Äthiopien eine allgemeine Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar; extreme Gefahrenlage, da Finanzierung der antiretroviralen Behandlung nicht möglich.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Im vorliegenden Fall besteht aufgrund der HIV-Erkrankung der Klägerin ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Äthiopien gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

aa) Die drohende Verschlimmerung einer HIV-Erkrankung wegen unzureichender oder nicht erschwinglicher Behandlungsmöglichkeiten in Äthiopien stellt eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dar. Das Bundesverwaltungsgericht hat zur Vorläufervorschrift bereits entschieden, dass bei weit verbreiteten Krankheiten wie AIDS eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG vorliegen kann (Urteil vom 27. April 1998 - 9 C 13/97 - InfAuslR 1998, 409 ff.). Maßgeblich ist, ob in dem jeweiligen Abschiebezielstaat "viele Menschen hiervon betroffen" sind (a. a. O., S. 410 f.).

In Äthiopien ist AIDS so weit verbreitet, dass eine allgemeine Gefahr in diesem Sinne besteht.

Nach Auffassung des Gerichts haben die HIV-Erkrankungen in Äthiopien damit einen Verbreitungsgrad erreicht, bei dem ohne Bestehen einer politischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht gewährt werden kann, sondern durch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gesperrt ist.

bb) Eine Regelung nach § 60 a AufenthG für HIV-Infizierte bzw. AIDS-kranke Ausländer ist nicht vorhanden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 6 AuslG ist aber auch ohne Vorhandensein einer solchen Regelung gleichwohl Abschiebungsschutz zu gewähren, wenn der Betroffene anderenfalls in eine "extreme" Gefahr geriete, "die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde" (BVerwG InfAuslR 1996, 149, 151). Auf diese Rechtsprechung, die auf § 60 Abs. 7 AufenthG zu übertragen ist, kann sich die Klägerin hier mit Erfolg stützen.

Die Klägerin ist HIV-positiv. Die Erkrankung befindet sich dem Attest zufolge im Stadium B2 nach der CDC-Klassifikation und damit bereits in dem fortgeschrittenen Stadium, in dem Erkrankungen vorliegen, die auf eine Störung der zellulären Immunität hinweisen (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Aufl., S. 778).

Nach Auffassung des Gerichts gerät die Klägerin deshalb bei Rückkehr nach Äthiopien in eine extreme Gefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Klägerin in Äthiopien eine antiretrovirale Therapie zur Verfügung stehen wird. Zwar ist anzunehmen, dass zumindest in der äthiopischen Hauptstadt die erforderlichen antiretroviralen Medikamente grundsätzlich erhältlich sind. Denn das Auswärtige Amt hat in einer Auskunft vom 7. Juni 2005 an das Bayerische Verwaltungsgericht München ausdrücklich erklärt, dass eine Versorgung mit diesen Medikamenten zumindest in Addis Abeba jederzeit gewährleistet ist.

Die Klägerin würde jedoch im Falle einer Rückkehr aller Voraussicht nach nicht in den Genuss solcher Medikamente kommen. Das Gericht hat in dem der Auskunft vom 7. Juni 2005 zugrunde liegenden Anschreiben an das Auswärtige Amt vom 29. April 2005 ausdrücklich die frühere Auskunft der Botschaft in Addis Abeba vom 12. Dezember 2003 erwähnt, wonach grundsätzlich jeder Äthiopier zumindest über Verwandte oder Bekannte in Addis Abeba die benötigten Medikamente erhalten könne. Das Auswärtige Amt hat in seiner Antwort vom 7. Juni 2005 diese frühere Einschätzung nicht wiederholt, sondern ausgeführt, dass HIV-Behandlungen und der Erwerb antiretroviraler Medikamente kostenlos nur möglich sei, wenn die örtliche Kebele-Verwaltung ein sog. "free paper" ausstelle. In den Genuss solcher Freibehandlungsscheine kommen jedoch der Auskunft zufolge nur die Ärmsten der Armen. In diese Kategorie fielen Rückkehrer aus dem Ausland in der Regel aber nicht. Das Gericht geht deshalb davon aus, dass die Klägerin keine hinreichende Chance hat, diese Medikamente umsonst zu erhalten.

Es ist auch unwahrscheinlich, dass die Klägerin die notwendigen Behandlungskosten selbst aufbringen kann. Insoweit ist zunächst zu beachten, dass die Klägerin nicht nur die Medikamente als solche sich beschaffen muss. Es ist davon auszugehen, dass der Therapieverlauf und zu erwartende Nebenwirkungen regelmäßig durch einen in der Behandlung des Krankheitsbildes erfahrenen Arzt überwacht und regelmäßige und umfangreiche Laborkontrollen durchgeführt werden müssen. Auch diese Kosten müsste die Klägerin tragen.

Ferner muss bedacht werden, dass die Klägerin in eine extreme Gefahr schon dann gerät, wenn sie in den ersten Monaten die erforderlichen Kosten nicht aufbringen kann. Sie kann, anders als ein Gesunder, nicht darauf verwiesen werden, gewisse Anlaufschwierigkeiten in Kauf zu nehmen, bis sie mittelfristig beruflich wieder so Fuß gefasst hat, dass sie die Behandlungskosten selbst finanzieren kann.

Im vorliegenden Fall ist nicht anzunehmen, dass die Klägerin so schnell wieder über die finanziellen Mittel verfügt, um sich eine antiretrovirale Behandlung leisten zu können. In der Auskunft vom 12. Dezember 2003 wird als Preis einer Monatspackung antiretroviraler Medikamente ein Betrag vom 350 Birr genannt, als Preis für das sog. Monitoring, d. h. die Überwachung der Blutwerte und die Kontrolle, ob und wie die Medikamente wirken, ein Preis von halbjährlich 1000 Birr. Damit müsste die Klägerin praktisch schon in nächster Zeit monatlich einen Betrag aufbringen, der in Äthiopien in vielen Fällen einem Monatsgehalt entspricht (vgl. Lagebericht, S. 14).