VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 02.12.2005 - 7 K 2700/04 - asyl.net: M7596
https://www.asyl.net/rsdb/M7596
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, vorübergehende Gründe, Ausreisehindernis, Krankheit, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, psychische Erkrankung, Depression, Suizidgefahr, fachärztliche Stellungnahmen, Abschiebung, ärztliche Begleitung, Diabetes mellitus
Normen: AufenthG § 25 Abs. 4 S. 1; AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

Die Klage ist unbegründet.

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen (nachfolgend I.) und können auch die hilfsweise begehrte Bescheidung ihrer Anträge im Ermessenswege unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes nicht beanspruchen (nachfolgend II.), vgl. § 113 Abs. 5 VwGO.

3.) Auch erfüllen die Kläger nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Unabhängig von der Frage, ob diese Vorschrift überhaupt auf vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer anwendbar ist, weil insofern die spezielleren §§ 25 Abs. 5, 23 a AufenthG abschließend sind (vgl. die vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums zum AufenthG vom 22. Dezember 2004, Ziffer 25.4.1.1), ermöglicht sie die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Ermessenswege lediglich für einen vorübergehenden Aufenthalt. Das Begehren der Kläger ist hingegen auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen dauerhaften Verbleib im Bundesgebiet gerichtet. Ihrem Vorbringen lassen sich auch keine Anhaltspunkte für dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen entnehmen, die ihren vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet erforderten. Die geltend gemachte lange Dauer des bisherigen Aufenthaltes der Kläger lässt gerade keinen nur vorübergehenden Aufenthaltszweck erkennen (vgl. in diesem Zusammenhang VG Aachen, Urteil vom 27. Juni 2005 - 8 K 1006/02 -).

4.) Die Kläger können die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen auch nicht gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG beanspruchen.

Nach dieser Vorschrift kann einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist (Satz 1). Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist (Satz 2). Vorliegend ist aufgrund des langjährigen geduldeten Aufenthaltes der Kläger im Bundesgebiet Satz 2 der Vorschrift einschlägig. Dieser knüpft nach seiner systematischen Stellung an die Voraussetzungen des Satz 1 an und modifiziert die darin vorgesehene Ermessensentscheidung ("kann") zu einer "Soll"-Entscheidung, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist (vgl. VGH BW, Urteil vom 06. April 2005 - 11 S 2779/04 -, <jurisweb>, und im Anschluss daran VG Aachen, Urteil vom 27. Juni 2005 - 8 K 1006/02 -).

Es fehlt indes an dem für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen dauerhaften Ausreisehindernis i.S.d. § 25 Abs. 5 AufenthG. Die Kläger können nicht mit Erfolg geltend machen, dass ihre Ausreise aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes die Ausreise aus rechtlichen und/oder tatsächlichen Gründen unmöglich sei.

Eine Unmöglichkeit der Ausreise im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG scheidet insbesondere dann aus, wenn die Abschiebung nicht als rechtlich unmöglich anzusehen ist. Die rechtliche ebenso wie die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist nämlich Mindestvoraussetzung für die Unmöglichkeit der Ausreise. Ist die Abschiebung hingegen unmöglich, liegt ein rechtliches oder tatsächliches Ausreisehindernis erst dann vor, wenn dem Ausländer auch die freiwillige Ausreise nicht zuzumuten ist (vgl. VGH BW, Urteil vom 06. April 2005 - 11 S 2779/04 -, (juris)).

Ob ein solches - von der beklagten Ausländerbehörde in eigener Entscheidungskompetenz zu prüfendes - inlandsbezogenes Ausreisehindernis besteht, ist nach denselben Grundsätzen zu beurteilen, die für die Anerkennung eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses bzw. -verbotes gelten.

So kann eine bestehende (körperliche oder psychische) Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers ein inlandsbezogenes Abschiebungs- bzw. Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG begründen. Die Ausländerbehörde ist nämlich verpflichtet, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen, wenn diese das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des betreffenden Ausländers gefährden könnten. Dies folgt zum einen aus der umfassenden staatlichen Schutzverpflichtung nach Art. 2 Abs. 2 GG, zum anderen aus dem Grundsatz der Menschenwürde, dem auch bei der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines tatsächlichen und/oder rechtlichen Abschiebungshindernisses Geltung zu verschaffen ist.

Indes führt nicht jede mit der bevorstehenden Rückkehr in das Heimatland einhergehende Gefährdung oder Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu einem Duldungsgrund wegen Reiseunfähigkeit. Indem das Aufenthaltsgesetz die Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer unter bestimmten Voraussetzungen vorsieht, nimmt es in diesem Zusammenhang vielfach zu erwartende Auswirkungen auf den gesundheitlichen, insbesondere psychischen Zustand des Betroffenen in Kauf und lässt diese erst dann als Duldungsgründe gelten, wenn eine akute Reiseunfähigkeit nachweisbar gegeben ist. Dabei bestimmen sich die Anforderungen an die staatliche Schutzpflicht nach den Besonderheiten des Einzelfalls. Der Ausländerbehörde obliegt es dabei, gegebenenfalls durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen - etwa durch ärztliche Hilfen bis hin zu einer Flugbegleitung - zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 07. Juni 2004 - 19 B 1147/04 - unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 16. April 2002 - 2 BvR 553/02 - , InfAuslR 2002, 415).

Das Risiko einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes bzw. eines Suizids im Falle einer Abschiebung muss, um zu einer akuten Reiseunfähigkeit führen zu können, ernsthaft und beachtlich sein (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Januar 2005 - 19 B 1929/04 - (NRWE), vom 14. Dezember 2004 - 19 B 1473/04 -, und vom 27. April 2004 - 19 B 1433/02 -; ferner VGH BW, Beschlüsse vom 10. Juli 2003 - 11 S 2622/02 -, InfAuslR 2003, 423, und vom 07. Mai 2001 - 1 S 389/01 -, InfAuslR 2001, 384; VG Sigmaringen, Beschluss vom 09. Oktober 2003 - 2 K 855/03 -, (jurisweb); OVG Berlin, Beschluss vom 16. Dezember 2004 - 6 S 460.04 - (jurisweb)).

Gemessen an diesen strengen Voraussetzungen für die Annahme einer abschiebungsrelevanten Reiseunfähigkeit ist im Fall der Kläger nach dem maßgeblichen Sachstand im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht davon auszugehen, dass ihre Rückführung in die Türkei nicht verantwortet werden kann.

a) Das gilt zunächst für den Kläger zu 1). Aus den von ihm vorgelegten bzw. den von Amts wegen eingeholten (fach-)ärztlichen Berichten, Stellungnahmen und Attesten ergibt sich nicht, dass bei ihm derzeit die hohe Schwelle der abschiebungsrelevanten Reiseunfähigkeit überschritten ist.

bb) Die somatischen Erkrankungen des Klägers zu 1) begründen ebenfalls nicht seine dauernde Reiseunfähigkeit.

(1) Soweit in dem von Dr. I. ausgestellten ärztlichen Attest vom 16. Dezember 2004 weitere Erkrankungen - Diabetes mellitus Typ 2 (E11.3-G), Diabetische Retinopathie mit Blutungen (E11.3-G), Schlaf-Apnoe-Syndrom (G47.3G), Schwere arterielle Hypertonie (I10.90G), Prostatahypertrophie (N40G), Nykturie (R35G), Karotissklerose (I67.2G), Heberdenarthrose (M15.1G), Koronare Herzkrankheit (I25.19G) - des Klägers zu 1) aufgeführt sind, ist nicht anzunehmen, dass ihm bei einer Abschiebung ernsthaft und beachtlich wesentliche Gesundheitsgefahren drohen, denen der Beklagte nicht durch entsprechende Sicherheitsmaßnahmen insbesondere durch die und im Rahmen der von ihm geplanten ärztlichen Begleitung wirksam - etwa durch die Kontrolle der Blutdruckwerte und ggf. die intravenöse Verabreichung blutdrucksenkender Medikamente (vgl. den amtsärztlichen Bericht vom 21. Februar 2003) - begegnen kann.

Hausarzt behandelnden Herrn Dr. I. . Im übrigen kann der Gefahr eines hyperosmolaren Komas aller Voraussicht nach auch während einer Reise durch den begleitenden Arzt durch Flüssigkeits- und Elektrolytsubstitution und (erst) in zweiter Linie durch Insulingaben und andere Maßnahmen wirksam begegnet werden (vgl. hierzu im Internet "diabetes.uni-duesseldorf.de/wasistdiabetes/kritisch/index.html?TextID=1278").

Soweit Frau Dr. F. Einwände gegen eine ärztliche Flugbegleitung erhebt und einem begleitenden Arzt gleichsam jedwede Eingriffsmöglichkeit abspricht, ist dem nicht zu folgen, da es insoweit an einer plausiblen Begründung fehlt. Es ist insbesondere nicht erkennbar, dass zwingend eine "Quasi-Narkotisierung" erfolgen müsste, um eine Abschiebung erfolgreich durchführen zu können. Die ärztliche Flugbegleitung einer Abschiebung ist auch nicht per se standeswidrig (vgl. hierzu den Runderlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2004 - Az. 15-39.10.03 - "Informations- und Kriterienkatalog zu Fragen der ärztlichen Mitwirkung bei Rückführungsfragen").