OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.11.2005 - 11 A 2482/03.A - asyl.net: M7599
https://www.asyl.net/rsdb/M7599
Leitsatz:
Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, interne Fluchtalternative, Dagestan (A), Inguschetien (A), Divergenzrüge, nachträgliche Divergenz
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2
Auszüge:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

1. Die Berufung ist nicht wegen der vom Kläger geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG) zuzulassen. Die von ihm als grundsätzlich klärungsbedürftig angesehene Frage, "ob für russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit die Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative im Sinne der Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urt. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86) insofern vorliegen, als dieser Personenkreis in allen anderen Landesteilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens, vornehmlich in den benachbarten Teilrepubliken Dagestan und Inguschetien, hinreichend sicher vor Verfolgungsmaßnahmen durch russische Staatsorgane ist und dort auch eine ausreichende Existenzmöglichkeit vorfindet", rechtfertigt nicht mehr die Durchführung eines Berufungsverfahrens. Denn der Senat hat hinsichtlich eines möglichen Anspruches auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) - nichts anderes gilt in Bezug auf das Asylrecht - mit Urteil vom 12. Juli 2005 - 11 A 2307/03.A - (n. v., Langtext in juris) bereits rechtsgrundsätzlich in Übereinstimmung mit weiterer obergerichtlicher Rechtsprechung entschieden, dass Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens in anderen Bereichen der Russischen Föderation im Regelfall eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.

2. Die Berufung ist auch nicht wegen eines Falles sog. nachträglicher Divergenz zuzulassen. Nach der Rechtsprechung kann ein Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) in einen Antrag auf Berufungszulassung wegen Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) umgedeutet werden, wenn zwischenzeitlich - wie hier - die aufgeworfene grundsätzliche Frage durch eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts beantwortet worden ist; denn die Divergenzberufung ist ein Unterfall der Grundsatzberufung und dient ebenso wie diese der Sicherung der Rechtseinheit (vgl. BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senates), Beschluss vom 21. Januar 2000 - 2 BvR 2125/97 -, InfAuslR 2000, 308 (310 f.); BVerwG, Beschluss vom 21. Februar 2000 - 9 B 57.00 -, n.v. (Langtext in juris); OVG NRW, Beschluss vom 24. Juni 1996 - 23 A 3221/95.A -, n. v. (Leitsatz in Juris), S. 3 des Beschlussabdrucks m. w. N. aus der früheren Rspr.).

Zwar hat das Verwaltungsgericht im Gegensatz zu der zeitlich nachfolgenden Senatsrechtsprechung im Grundsatz das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative verneint. Die Durchführung eines Berufungsverfahrens wegen nachträglicher Divergenz ist zur Sicherung der Rechtseinheit im vorliegenden Einzelfall allerdings nicht geboten.

Zum einen hat das Verwaltungsgericht - bezogen auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung (hier: 12. Mai 2003) - seine Beurteilung auf Erkenntnisse gestützt, die im Wesentlichen aus den Jahren 2000 bis 2002 stammten. Demgegenüber hat der Senat in seinem Urteil vom 12. Juli 2005 vorwiegend Quellen ausgewertet, die mehrheitlich in den Jahren 2003 bis 2005 veröffentlicht worden sind, damit dem Verwaltungsgericht noch gar nicht bekannt sein konnten, und die auf eine grundsätzliche Stabilisierung der Situation tschetschenischer Volkszugehöriger in den übrigen Landesteilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens hingedeutet haben (vgl. hierzu Hess. VGH, Beschluss vom 12. März 1999 - 9 UZ 969/98.A -, NVwZ 1999, Beilage Nr. 9, 96 (nur Leitsatz; Langtext in juris)).

Zum anderen hat der Senat die Frage des Bestehens einer inländischen Fluchtalternative für tschet-

schenische Volkszugehörige nur für den Regelfall anders bewertet als das Verwaltungsgericht.

Zugleich hat der Senat aber auch die Möglichkeit einer Ausnahme vom Bestehen einer inländischen Fluchtalternative im Falle solcher politisch Verdächtiger bejaht, die sich in der Tschetschenien-Frage besonders engagiert haben und von der russischen Staatsgewalt wegen dieses Engagements oder einer nur vermuteten Involvierung konkret verdächtigt bzw. gesucht werden. Denn für solche Personen könne angesichts der staatlichen Übergriffe, die vorgekommen seien und auch für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden könnten, die Gefahr einer Verfolgung nicht mit der erforderlichen Sicherheit verneint werden (OVG NRW, Urteil vom 12. Juli 2005 - 11 A 2307/03.A -, a. a. O., S. 38 des Urteilsabdrucks).

Ohne sich im Ergebnis in Widerspruch zu der vorzitierten Entscheidung des Senats zu setzen, hat das Verwaltungsgericht aber nach seinen tatsächlichen Feststellungen hier einen solchen Ausnahmefall bejaht. An diese Feststellungen ist der Senat im Zulassungsverfahren gebunden ist, weil sie der Kläger über eine pauschale Darstellung einer anderen Sichtweise hinaus nicht mit Verfahrensrügen angegriffen hat (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7. Mai 1992 - A 16 S 552/92 -, VGHBW-Ls 1992, Beilage 9, B 4-5 (nur Leitsatz; Langtext in juris), und OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 31. Mai 1995 - 7 A 10891/95 -, n. v. (Langtext in juris)).