VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 30.11.2005 - 14 A 271/02 - asyl.net: M7624
https://www.asyl.net/rsdb/M7624
Leitsatz:

Verlust der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit, wenn am 30.9.1998 kein Wohnsitz in Aserbaidschan bestand; Rückkehr nach Berg-Karabach über Armenien für staatenlose oder staatenlos gewordene armenische Volkszugehörige unzumutbar.

 

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Berg-Karabach, Russland, Armenien, Staatsangehörigkeit, Staatenlose, Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt, Ausbürgerung, Abschiebungsandrohung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Verlust der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit, wenn am 30.9.1998 kein Wohnsitz in Aserbaidschan bestand; Rückkehr nach Berg-Karabach über Armenien für staatenlose oder staatenlos gewordene armenische Volkszugehörige unzumutbar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor.

Soweit Ausländern eine Staatsangehörigkeit besitzen, ist grundsätzlich zu prüfen, ob ihnen im Land ihrer Staatsangehörigkeit politische Verfolgung iSd Art. 16 a Abs. 1 GG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG (ehemals § 51 Abs. 1 AuslG) droht. Im vorliegenden Fall nimmt das Gericht an, dass die Kläger weder die aserbaidschanische noch die russische oder armenische Staatsangehörigkeit besitzen, sie sind vielmehr staatenlos.

Die Kläger sind keine aserbaidschanischen Staatsangehörige.

Letztlich entscheidend ist zur Überzeugung des Gerichts, dass die Kläger zu 1) und 2) auch dann, sollten sie die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit jemals erworben haben, diese jedenfalls durch das aserbaidschanische Staatsangehörigkeitsgesetz vom 30.09.1998 wieder verloren haben. Nach Art. 5 Abs. 1 dieses Gesetzes besitzen Personen die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit (weiterhin), die die Staatsangehörigkeit im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes besaßen (lt. Botschaft Baku vom 12.12.2000 an Auswärtiges Amt, Nr. 82 Erkenntnismittelliste Aserbaidschan; lt. Rat der Europäischen Union vom 01.09.2000 an CIREA, Nr. 85 c) der Erkenntnismittelliste Aserbaidschan). Als Grundlage für das Fortbestehen der Staatsangehörigkeit wird ausdrücklich die "Meldung der Person an ihrem Wohnsitz in der Republik Aserbaidschan am Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes" genannt. Damit wird ausdrücklich auf die Existenz eines faktischen Wohnsitzes und die amtliche Meldung an diesem Wohnsitz abgestellt (so ausdrücklich auch VG Schleswig, Urteil vom 02.02.2005 a.a.O.).

Die Kläger. zu 1) und 2) hatten aber zum fraglichen Zeitpunkt keinen faktischen Wohnsitz in Aserbaidschan mehr, so dass sie jedenfalls zu diesem Zeitpunkt die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit verloren haben. Der Kläger zu 3) war niemals in Aserbaidschan.

Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger die russische oder die armenische Staatsangehörigkeit erworben haben, sind nicht vorhanden. Die russische Staatsangehörigkeit haben sie - wie den obigen Ausführungen zu entnehmen - durch die Auflösung der Sowjetunion nicht zwangsläufig erhalten.

Eigenen Angaben zufolge haben sie illegal in Russland gelebt und keine Staatsangehörigkeit erhalten. Die Beklagte hat nichts vorgetragen, was einen gegenteiligen Sachverhalt vermuten ließe.

Im Hinblick auf die angedrohte Abschiebung nach Aserbaidschan kann die (an sich gebotene) Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG entfallen. Die Abschiebungsandrohung nach Aserbaidschan kann nämlich im vorliegenden Verfahren ohne Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG aufgehoben werden (siehe VG Schleswig, a.a.O.), weil die Abschiebungsandrohung aufzuheben ist, soweit den Klägern die Abschiebung nach Aserbaidschan angedroht worden ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 10.07.2003 - 1 C 21102 -, BVerwGE 118, 308 ff.) ist die Androhung der Abschiebung in einen bestimmten Zielstaat ausnahmsweise dann ohne Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (jetzt § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) aufzuheben, wenn bereits aufgrund der Entscheidung über das Asylbegehren zweifelsfrei feststeht, dass eine zwangsweise Abschiebung und eine freiwillige Ausreise in den Zielstaat auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Entscheidung zwar nicht im Fall eines (staatenlosen) Aserbaidschaners getroffen, sondern eines staatenlosen Kurden aus Syrien, die tatsächlich vorhandene Situation ist aber vergleichbar. Nach den vorliegenden Erkenntnissen werden aus Aserbaidschan stammenden Armeniern keine Papiere für eine (Wieder-)Einreise nach Aserbaidschan ausgestellt (vgl. VG Schleswig, a.a.O. mwN). Dies wird auch von der Beklagten nicht in Frage gestellt. Zur Überzeugung des Gerichts hat die Klägerin auch nicht die Möglichkeit, freiwillig nach Aserbaidschan, und zwar in den Gebietsteil Berg-Karabach, zurückzukehren. Dabei geht das erkennende Gericht - auch in soweit in Übereinstimmung mit der Auffassung der Beklagten - davon aus, dass eine freiwillige Einreise nach Berg-Karabach nur über die Republik Armenien stattfinden könnte.

Nicht entscheidend ist, ob die Kläger die Möglichkeit haben, eine Staatsbürgerschaft von "Berg-Karabach" zu erlangen, denn dieser "Staat" ist allgemein völkerrechtlich nicht anerkannt. Das Gericht teilt die bereits von der 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Schleswig vertretene Rechtsauffassung (s. das bereits mehrfach zitierte Urteil vom 02.02.2005), dass staatenlosen Flüchtlingen aus Aserbaidschan generell eine freiwillige Ausreise nach Berg-Karabach nicht zumutbar ist (s. im einzelnen S. 14 ff. des genannten Urteils). In diesem Zusammenhang ist entscheidungserheblich, dass Staatenlose für die Einreise nach Berg-Karabach vorab die armenische Staatsangehörigkeit erwerben müssen. Einzelheiten ergeben sich insoweit aus dem in die mündliche Verhandlung eingeführten Urteil der 4. Kammer des Verwaltungsgerichts vom 02.02.2005 (rechtskräftiger Beschluss des OVG Schleswig vom 16.03.2005 - 1 LA 32/05 -).

Zu einem anderen Ergebnis können auch nicht die neueren, vom Hessischen VGH eingeholten, dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Auskünfte des Transkaukasus-Instituts vom 30.10.2004 (Dok. Aserb. 179) und des Auswärtigen Amtes vom 06.04.2005 (Dok. Aserb. 186), sowie die auf Anfrage des OVG Greifswald erstellte Auskunft des Transkaukasus-Instituts vom 16.04.2005 (Dok. Aserb. 187) führen.

Soweit in der Auskunft des Auswärtigen Amtes auf die "in bestimmten Fällen" (welchen?) gegebene Möglichkeit verwiesen wird, die Staatsangehörigkeit von Armenien zu beantragen, wird nochmals darauf hingewiesen, dass das Gericht es als unzumutbar ansieht, eine fremde Staatsangehörigkeit zu beantragen, um dann über diesen Staat in seinen Heimatstaat (der dann möglicherweise nicht mehr Heimatstaat ist) reisen zu können.

Nach alledem war die Abschiebungsandrohung bzgl. Aserbaidschan aufzuheben, es steht zur Überzeugung des Gerichts ohne jeglichen Zweifel fest, dass eine zwangsweise Abschiebung und freiwillige Ausreise der Kläger in den Zielstaat Aserbaidschan auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen ist.