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VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 20.10.2005 - 7 UE 1365/05.A - asyl.net: M7656
https://www.asyl.net/rsdb/M7656
Leitsatz:

1. Wird eine generelle, an die Ethnie anknüpfende Schutzverweigerung des Staates im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG behauptet, bedarf es zur Beurteilung der Schutzbereitschaft, bei Anlegung eines generell-abstrakten Maßstabes konkreter und gesicherter Anhaltspunkte dafür, dass der Staat keine zureichenden Vorkehrungen zur Eindämmung privater Gewalt gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen getroffen hat, der Staat sich vielmehr in die Komplizenschaft mit dem oder den verfolgenden Akteuren begeben hat und diese gewähren lässt (in Anknüpfung an die Rechtsprechung des BVerwG zur Frage der Zurechenbarkeit von Übergriffen Dritter, B. v. 24.03.1995 - BVerwG 9 B 747.94 -, NVwZ 1996, 85; U. v. 05.07.1994 - BVerwG 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391).

2. Erwiesen ist die Schutzunwilligkeit der in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a) und b) AufenthG genannten Akteure gegenüber einem zurückkehrenden, sich auf eine an die Ethnie anknüpfende Verfolgung berufenden Gruppenangehörigen dann, wenn die anzustellende Verfolgungsprognose zu der sicheren Erkenntnis gelangt, dass die fehlende Schutzbereitschaft in quantitativer und qualitativer Hinsicht einem generellen Muster entspricht, um Angehörigen der Gruppe den Zugang zum nationalen Schutzsystem zu verweigern.

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Widerruf, Bosnier, Flüchtlingsanerkennung, Moslems, Sandzak, SDA, Mitglieder, Desertion, Amnestie, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Gruppenverfolgung, Wegfall-der-Umstände-Klausel, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Kausalzusammenhang, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Krankheit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3
Auszüge:

1. Wird eine generelle, an die Ethnie anknüpfende Schutzverweigerung des Staates im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG behauptet, bedarf es zur Beurteilung der Schutzbereitschaft, bei Anlegung eines generell-abstrakten Maßstabes konkreter und gesicherter Anhaltspunkte dafür, dass der Staat keine zureichenden Vorkehrungen zur Eindämmung privater Gewalt gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen getroffen hat, der Staat sich vielmehr in die Komplizenschaft mit dem oder den verfolgenden Akteuren begeben hat und diese gewähren lässt (in Anknüpfung an die Rechtsprechung des BVerwG zur Frage der Zurechenbarkeit von Übergriffen Dritter, B. v. 24.03.1995 - BVerwG 9 B 747.94 -, NVwZ 1996, 85; U. v. 05.07.1994 - BVerwG 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391).

2. Erwiesen ist die Schutzunwilligkeit der in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a) und b) AufenthG genannten Akteure gegenüber einem zurückkehrenden, sich auf eine an die Ethnie anknüpfende Verfolgung berufenden Gruppenangehörigen dann, wenn die anzustellende Verfolgungsprognose zu der sicheren Erkenntnis gelangt, dass die fehlende Schutzbereitschaft in quantitativer und qualitativer Hinsicht einem generellen Muster entspricht, um Angehörigen der Gruppe den Zugang zum nationalen Schutzsystem zu verweigern.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zugelassene und auch sonst zulässige Berufung ist begründet.

Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Der Bescheid des Bundesamtes vom 10.02.2004 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger auch nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

A. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Feststellung eines Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 1 AufenthG unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für ihn nicht mehr vorliegen.

Die Beklagte ging in ihrem Anerkennungsbescheid vom 05.05.2000 davon aus, dass dem Kläger deshalb Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zu gewähren war, da er nach Verhängung des Kriegszustandes durch die Regierung in Belgrad am 24.03.1999 aus der jugoslawischen Armee desertiert sei. Es sei deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er als "Verräter an der jugoslawischen Sache" angesehen werde und ihm im Falle seiner Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen i.S.v. § 51 Abs. 1 AuslG drohten.

Diese seinerzeit im Bescheid der Beklagten vom 05.05.2000 beurteilte Situation hat sich zwischenzeitlich grundlegend geändert. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 18.02.2005 - 7 UE 1430/05.A - festgestellt, dass eine Verfolgungsgefahr aufgrund der Zugehörigkeit zu der Bevölkerungsgruppe der Muslime im Sandzak und auch wegen einer Mitgliedschaft in der SDA derzeit nicht mehr besteht. Er hat hierzu ausgeführt: ...

An dieser Auskunftslage hat sich bis heute nichts geändert. Vielmehr ist eine weitere Stabilisierung der Situation der Bosniaken festzustellen.

Eine politische Verfolgung des Klägers aufgrund seiner Desertion im März 1999 aus der jugoslawischen Armee ist ebenfalls mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, da ein wirksames und auch umfänglich angewandtes Amnestiegesetz für Wehrdienstentziehungen und Desertionen aus der jugoslawischen Armee bis zum 07.10.2000 am 26.02.2001 vom jugoslawischen Bundesparlament verabschiedet wurde, das am 05.03.2001 in Kraft getreten ist.

In Würdigung der vorerwähnten Feststellungen insbesondere zur Situation der muslimischen Bevölkerungsgruppe im Sandzak ist der Widerruf mit Bescheid vom 10.02.2004 auch nicht rechtswidrig, soweit der Kläger behauptet, ihm sei eine Rückkehr nach Serbien und Montenegro nicht möglich, weil ihm dort eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG drohe.

Abgesehen davon, dass nach den obigen Feststellungen systematische Übergriffe gegenüber Bosniaken im Sandzak mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können, wären selbst dann, wenn es zu solchen ethnisch motivierten Übergriffen Dritter kommen würde, für einen erwiesenermaßen fehlenden Willen des Staates Serbien und Montenegro, Verfolgungsschutz zu bieten, für den Senat keine konkreten Anhaltspunkte ersichtlich. Die vom Kläger aufgezeigten Tendenzen von Polizeibehörden, Anzeigen von Angehörigen der muslimischen Minderheit nicht ernsthaft nachzugehen, lassen sich nach den in das Verfahren eingeführten Auskünften sachinformierter Stellen seit dem politischen Umschwung im Oktober 2000 nicht mehr feststellen (vgl. AA: Lagebericht v. 29.03.2005; AA an VG Frankfurt am Main v. 13.11.2001). Sie wären auch nicht geeignet, dem Staat Serbien und Montenegro die generelle Schutzbereitschaft gegenüber den Minderheiten "erwiesenermaßen", wie dies in § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG verlangt wird, abzusprechen. Hierzu bedarf es zumindest dann, wenn eine generelle, an die Ethnie anknüpfende Schutzverweigerung des Staates behauptet wird, bei Anlegung eines generell-abstrakten Maßstabes konkreter und gesicherter Anhaltspunkte dafür, dass der Staat keine zureichenden Vorkehrungen zur Eindämmung privater Gewalt gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen getroffen hat, der Staat sich vielmehr in die Komplizenschaft mit dem oder den verfolgenden Dritten begeben hat und diese gewähren lässt (vgl. zur Frage der Zurechenbarkeit von Übergriffen Dritter, BVerwG, B. v. 24.03.1995 - BVerwG 9 B 747.94 -, NVwZ 1996, 85; U. v. 05.07.94 - BVerwG 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391 ff.). Denn anders als in Fällen, in denen der Antragsteller eine individuelle Schutzverweigerung vor der Ausreise geltend macht, kann es in den Fällen einer behaupteten gruppenspezifischen Schutzverweigerung nach Rückkehr in das Heimatland nicht lediglich um die Frage gehen, ob ernsthafte sowie gewichtige und auf die Person des Schutzsuchenden bezogene Tatsachen den Schluss rechtfertigen, staatlicher Schutz sei nicht verfügbar und auch in zumutbarer Weise nicht erlangbar. Der Maßstab für die Beurteilung, ob erwiesenermaßen kein Schutz gewährt wird, ist für die anzustellende Verfolgungsprognose im Falle der Beurteilung einer gefahrlosen Rückkehrmöglichkeit bei zuvor unverfolgter Ausreise ein anderer (vgl. Marx, AsylVfG, Komm., 6 Aufl., 2005, § 1 Rdnr. 155 ff.). Erwiesen ist die Schutzunwilligkeit der in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a) und b) genannten Akteure gegenüber einem zurückkehrenden Gruppenangehörigen nämlich erst dann, wenn die anzustellende Verfolgungsprognose zu der sicheren Erkenntnis gelangt, dass die fehlende Schutzbereitschaft in quantitativer und qualitativer Hinsicht einem generellen Muster entspricht, um Angehörigen der Gruppe den Zugang zum nationalen Schutzsystem zu verweigern. Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes kann der Senat vor dem Hintergrund der gesamten Auskunftslage mit hinreichender Sicherheit ausschließen, dass dem Kläger staatlicher Schutz gegen Übergriffe Dritter nur deshalb verwehrt werden wird, weil er Angehöriger der Gruppe der Bosniaken aus dem Sandzak ist. Es ist nicht erkennbar, dass der Staat es gegenüber Bosniaken unterlässt, geeignete Schritte einzuleiten, um die Verfolgung Dritter oder den Eintritt eines ernsthaften Schadens zu verhindern, oder grundsätzlich Bosniaken den Zugang zu diesem Schutz verweigert (vgl. AA an VG Frankfurt am Main v. 13.11.2001; AA: Lagebericht v. 29.03.2005).

Die letzten Zwischenfälle sind im September 2002 dokumentiert, als es während der Basketball-Weltmeisterschaft zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Volksgruppen Serben und Bosniaken kam, wobei es bereits die Jahre zuvor zu keinen nennenswerten Zwischenfällen mehr gekommen war. Der Umstand, dass es im Heimatland des Klägers zu solchen Vorfällen überhaupt kommt, rechtfertigt es nicht, bereits daraus den Schluss zu ziehen, dass die schutzbereiten staatlichen Stellen in Serbien und Montenegro "erwiesenermaßen" nicht in der Lage sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Auch in Serbien und Montenegro kann - wie beispielsweise auch in Deutschland - ein allumfassender staatlicher Schutz gegen gewalttätige Übergriffe von Privatpersonen aus rassistischen, kriminellen oder sonstigen Motiven heraus realistischer Weise nicht erwartet und dementsprechend auch im Rahmen des Asyl- und Flüchtlingsrechts nicht verlangt werden (vgl. hierzu OVG des Saarlandes, B. v. 11.05.2005 - 1 Q 16/05 - zit. n. juris, zur Frage, wann die Grenze der asylrechtlich bedeutsamen Pflicht zur staatlichen Schutzgewährleistung erreicht ist).

Gründe, aus denen nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG von einem Widerruf abzusehen wäre, weil es dem Kläger unzumutbar ist, in sein Heimatland zurückzukehren, sind vorliegend weder ausreichend dargelegt worden noch für den Senat erkennbar.

Zwar ist in der Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass ein Widerruf zu unterbleiben hat, wenn schwere physische oder psychische Schäden vorliegen, die infolge der bereits erlittenen politischen Verfolgung entstanden sind und die sich bei einer Rückkehr in das Heimatland wesentlich verschlechtern. Doch muss zwischen der früheren Verfolgung und der Unzumutbarkeit der Rückkehr ein kausaler Zusammenhang bestehen (Hess. VGH B. v. 28.05.2003, a. a. O.; Marx, AsylVfG, Komm, 6. Aufl. 2005, § 73 Rdnr. 130, 134). Davon kann aber bei den vom Kläger geltend gemachten Erkrankungen nicht ausgegangen werden.

B. Der Widerrufsbescheid der Beklagten ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil der Widerruf nicht innerhalb der Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2a AsylVfG ergangen ist bzw. nach Ermessen zu treffen gewesen wäre (im Ergebnis ebenso: Hess. VGH, B. v. 10.05.2005 - 7 UZ 810/05.A -; Bayerischer VGH, B. v. 17.02.2005 - 21 ZB 05.30260 -; Niedersächsisches. OVG, B. v. 11.04.2005 - 8 LA 33/05 -; OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 14.04.2005 - 13 A 654/05.A -).