OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 14.07.2005 - 1 B 176/05 - asyl.net: M7659
https://www.asyl.net/rsdb/M7659
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, abgelehnte Asylbewerber, offensichtlich unbegründet, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Ausreisepflicht, Vollziehbarkeit, vorübergehende Gründe, humanitäre Gründe, Ausbildung
Normen: AufenthG § 10 Abs. 3 S. 2; AufenthG § 25 Abs. 4 S. 1; AufenthG § 26 Abs. 1 2. Hs.
Auszüge:

I. § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift darf einem Ausländer, dessen Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt worden ist, vor der Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Die Auffassung der Antragsgegnerin, die Sperrwirkung dieser Vorschrift greife auch dann ein, wenn ein Asylantrag - wie hier - nach früherem Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden sei, findet im Gesetz keine Stütze.

§ 10 Abs. 3 Satz 2 AuslG bezieht sich nicht auf alle als offensichtlich unbegründet abgelehnten Asylanträge, sondern nur auf eine bestimmte Fallgruppe der in § 30 Abs. 1 bis 5 AsylVfG geregelten Ablehnungsgründe, nämlich die des Absatz 3. Erfasst sind Asylanträge, die - unabhängig davon, ob sie in der Sache selbst offensichtlich unbegründet oder nur unbegründet sind - als offensichtlich unbegründet gelten und wie diese zu behandeln sind, weil der Asylbewerber gegen Mitwirkungspflichten verstoßen hat, mehrfache Anträge unter verschiedenen Namen gestellt hat oder aufgrund schwerer Straftaten vollziehbar ausgewiesen ist. Die Regelung konnte erst eingeführt werden, nachdem die Voraussetzungen dafür durch eine Verfassungsänderung (Art. 16a Abs. 4 GG) geschaffen worden waren (zu Funktion und Entstehungsgeschichte des Abs. 3 vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Rn 41 zu § 30 AsylVfG). Zum Zeitpunkt der Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers gab es weder diese noch eine inhaltlich vergleichbare Regelung. § 11 AsylVfG in der bis zum 30.06.1992 geltenden Fassung, auf den der gegen den Antragsteller ergangene Bescheid gestützt war, galt vielmehr nur für Anträge, die in der Sache selbst offensichtlich unbegründet waren. Das war nach § 11 Abs. 2 AsylVfG a.F. insbesondere dann der Fall, wenn nach den Umständen des Einzelfalls offensichtlich war, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation oder einer kriegerischen Auseinandersetzung zu entgehen, in Deutschland aufhielt. Diese Regelung ist unverändert in § 30 Abs. 2 AsylVfG der jetzt geltenden Fassung übernommen worden. Auf § 30 Abs. 2 AsylVfG verweist § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aber gerade nicht.

Auch den Gesetzesmaterialien lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass in den Fällen, in denen das Bundesamt einen Asylantrag vor dem 01.07.1992 als in der Sache offensichtlich unbegründet abgelehnt hat, vom 01.01.2005 an nunmehr die Ausländerbehörde nachträglich prüfen soll, ob das Bundesamt den Asylantrag auch aus den Gründen des § 30 Abs. 3 AsylVfG hätte ablehnen können, wenn es diese Vorschrift damals schon gegeben hätte, damit ggf. die Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG greift.

II. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht auch angenommen, dass die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenhtG erfüllt sind.

1. Zu Unrecht macht die Beschwerde geltend, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift sei hier schon deshalb ausgeschlossen, weil der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig sei. Fraglich ist schon, ob sich § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG eine solche Einschränkung entnehmen lässt (a).

a) Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob die Auffassung der Antragsgegnerin zutreffend ist, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG setze voraus, dass der Ausländer nicht vollziehbar ausreisepflichtig sei.

Der Wortlaut, auf den sich die Antragsgegnerin beruft, gibt für eine solche Einschränkung nichts her. Nicht zu überzeugen vermag auch die vom Bundesministerium des Innern vertretenen Ansicht (Nr. 25.4.1.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise zum Aufenthaltsgesetz vom 22.12.2004), für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer sei § 25 Abs. 5 AufenthG eine lex specialis, die die Anwendung von § 25 Abs. 4 AufenthG auf diesen Personenkreis ausschließe. Dagegen spricht schon, dass beide Vorschriften unterschiedliche Fallkonstellationen betreffen: Nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann nur eine Erlaubnis für den vorübergehenden Aufenthalt erteilt werden, während nach § 25 Abs. 5 AufenthG der Aufenthalt in Fällen, in denen mit dem Wegfall eines Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, also für längere Zeit erlaubt werden kann. Käme § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nur den Ausländern zu gute, die nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind, würde der Anwendungsbereich des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zudem gegen Null tendieren (so zutreffend das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport in seiner ablehnenden Stellungnahme vom 08.01.2005 - Az. 45.2-12230/1-8 - unter Nr. 25.4.1; zit. nach dem Beschluss des Niedersächsischen OVG vom 27.06.2005 - 11 ME 96/05 -), die Vorschrift also faktisch leerlaufen.

Vor allem aber spricht die Entstehungsgeschichte der Vorschrift gegen die Interpretation der Antragsgegnerin:

Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/420, S.79f.) soll § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG die Möglichkeit zur Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis eröffnen, deren Abschiebung bislang nach § 55 Abs. 3 AuslG ausgesetzt werden konnte, während Abs. 5 (in der ursprünglich vorgeschlagenen Fassung) die Aufenthaltsgewährung in den bislang in § 55 Abs. 4 AuslG genannten Fällen regeln soll. § 55 Abs. 3 AuslG ermöglichte die Duldung eines Ausländers, "solange er nicht unanfechtbar ausreisepflichtig ist oder wenn dringende ... persönliche Gründe ... seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern". Da eine Ausreisepflicht, die unanfechtbar ist, immer auch vollziehbar ist, sollte also die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht der Duldung nicht entgegenstehen, wenn die übrigen Voraussetzungen wie z.B. dringende persönliche Gründe für die weitere Anwesenheit erfüllt waren. An diesen sachlichen Voraussetzungen hat § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nichts ändern wollen; die Änderung sollte sich darauf beschränken, die Rechtsfolgen für den betroffenen Personenkreis zu verbessern.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass diese ursprüngliche Zielsetzung im Vermittlungsausschuss aufgegeben worden wäre. Wie das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport in der erwähnten Stellungnahme vom 08.01.2005 (a.a.O.) und in der Vorläufigen Niedersächsischen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - Vorl.Nds.VV-AufenthG - vom 31.März 2005 (Stand 01.07.2005 - abrufbar unter cdl.niedersachsen.de/blob/images/C9350587 L20.doc, hier: Nr. 25.4.1.0) berichtet, ist im Vermittlungsverfahren vergeblich beantragt worden, in § 25 Abs. 4 Satz 1 die Einschränkung "der noch nicht vollziehbar ausreisepflichtig ist" und in § 25 Abs. 5 die Einschränkung "nur" aufzunehmen.

All dies spricht dafür, § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auch auf vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer anzuwenden (ebenso: Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 27.06.2005 - 11 ME 96/05 -; Nr. 25.4.1.0 Vorl.Nds.VV-AufenthG (a.a.O.); Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Rn 1 zu § 60a; Heinhold, Die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG, Asylmagazin 11/2004, S. 7 (12); Fleuß, Neuerungen im Ausländerrecht nach dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes, BDVR-Rundschreiben Nr. 01-02/2005, S. 16 (28f.)).

2. Im Falle des Antragstellers fordern dringende persönliche Gründe seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet. Sie liegen in dem Interesse des Antragstellers begründet, die begonnene Ausbildung abzuschließen.

a) Der Abschluss einer Schul- oder Berufsausbildung ist schon in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/420 (S. 79f.)) als Beispiel für dringende persönliche Gründe im Sinne dieser Vorschrift benannt worden. Nach den Vorläufigen Anwendungshinweisen des Bundesministerium des Innern (Nr. 25.4.1.3), auf die sich die Antragsgegnerin beruft, ist der Abschluss einer Schul- oder Berufsausbildung allerdings nur als dringender persönlicher Grund anzuerkennen, sofern sich der Schüler oder Auszubildende bereits kurz vor dem angestrebten Abschluss, zumindest im letzten Schul- bzw. Ausbildungsjahr befindet. Nach der Vorl.Nds.VV-AufenthG ist für die Frage, ob dringende persönliche Gründe vorliegen, primär auf die individuell-konkreten Umstände des Einzelfalls abzustellen (Nr. 25.4.1.2); auf das letzte Schuljahr soll es nur "in der Regel" ankommen (Nr. 25.4.1.2.1).

Dem Gesetz lassen sich Anhaltspunkte für eine solche Einschränkung nicht entnehmen. Ob die persönlichen Gründe des Ausländers so dringend sind, dass sie seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern, ist aufgrund qualitativer Kriterien unabhängig von der Dauer der Ausbildung zu prüfen. Ein vorübergehender Aufenthalt im Sinne von § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann auch länger als ein Jahr sein; das ergibt sich schon aus § 26 Abs. 1 AufenthG. Entscheidend für die Frage, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vorliegen, ist allein, dass es sich um einen vorübergehenden, also nicht auf Dauer gerichteten Aufenthalt handelt. Das ist aber regelmäßig der Fall, wenn der Aufenthalt an die Dauer einer bereits begonnenen Ausbildung geknüpft wird, mit deren Abschluss in überschaubarer Zukunft zu rechnen ist.

Damit wird die Dauer der Ausbildung für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht bedeutungslos. Sie ist aber nicht schon bei den Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, sondern erst auf der Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen. Zum einen begrenzt § 26 Abs. 1 2. Hs. AufenthG die Dauer der Aufenthaltserlaubnis in den Fällen, in denen der Ausländer sich noch nicht mindestens 18 Monate rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, auf längstens sechs Monate; eine Verlängerung ist nur unter den Voraussetzungen des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG möglich. Zum andern kann sich die Ausländerbehörde im Rahmen der ihr obliegenden Ermessensentscheidung auch von der Erwägung leiten lassen, dass eine Ausbildung erst gerade begonnen und noch nicht weit gediehen ist. Dabei kann es auch rechtmäßig sein, wenn die Ausländerbehörde darauf abstellt, ob die Ausbildung noch länger als ein Jahr dauert oder nicht. Eine solche zeitorientierte Betrachtung kann aber nicht schematisch erfolgen, sondern muss immer auch die Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Diesen kommt gerade im Fall des Antragstellers besonderes Gewicht zu.