VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 22.11.2005 - 4 E 2800/03(1) - asyl.net: M7661
https://www.asyl.net/rsdb/M7661
Leitsatz:

§ 25 Abs. 5 AufenthG wegen Unzumutbarkeit der Rückkehr in das Kosovo.

 

Schlagwörter: D (A), Serbien und Montenegro, Kosovo, abgelehnte Asylbewerber, Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, freiwillige Ausreise, Zumutbarkeit, Verhältnismäßigkeit, Integration, Lebensunterhalt, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Ermessen, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 3 2. Hs.
Auszüge:

§ 25 Abs. 5 AufenthG wegen Unzumutbarkeit der Rückkehr in das Kosovo.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Anfechtungs-/Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1, § 44 VwGO) ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Die Kläger können ihr Begehren nach Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen jedoch unter Geltung der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt dieser Entscheidung auf die Rechtsvorschrift des § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) stützen.

Mit Einführung der Rechtsvorschrift des § 25 Abs. 5 in dem seit 1. Januar 2005 geltenden Aufenthaltsgesetz hat der Gesetzgeber die Aufenthaltsgewährung für die bislang in § 55 Abs. 4 AuslG genannten Fälle geregelt. Mit dieser neuen Bestimmung wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass die bisherige Praxis der sogenannten "Kettenduldung" beendet wird. Der Gesetzgeber hielt insoweit positiven Ermessensgebrauch jedenfalls für Minderjährige und für seit längerem in Deutschland aufenthältliche Ausländer für geboten (BT-Drucksache 15/420 [80]).

Wenn in Absatz 5 Satz 1 dieser Vorschrift die Möglichkeit der Erlaubniserteilung an die rechtlich oder tatsächlich unmögliche Ausreise geknüpft wird, ist dies an dem auch in § 25 Abs. 3 AufenthG normierten Ausreisebegriff zu betrachten. Es liegt dann nämlich kein Ausreisehindernis vor, wenn zwar eine Abschiebung nicht möglich ist, die freiwillige Ausreise jedoch möglich und zumutbar. Dieser rechtliche Ansatz war bereits in § 30 Abs. 3 und 4 AuslG enthalten. Unabhängig davon, dass nach § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden darf, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist, ist bei der Frage, ob eine Ausreisemöglichkeit besteht, auch die subjektive Möglichkeit, das heißt die Zumutbarkeit der Ausreise zu prüfen (a.a.O.).

Mit dieser Vorstellung des Gesetzgebers deckt sich Nummer 25.5.1.2 Satz 2 der vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 22. Dezember 2004. Die insoweit gegenteilige Auffassung des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport (Erlass vom 7. Februar 2005, II 4 23 d), wonach "die Frage der Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung bzw. der Unzumutbarkeit der Ausreise ... daher keine Frage der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG" darstellt, widerspricht hingegen der Intention des Gesetzgebers.

Schließlich geht auch der Hess. Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass in diesem rechtlichen Zusammenhang auch die subjektive Möglichkeit der Ausreise und damit die Zumutbarkeit zu prüfen ist (Beschluss vom 1. Juni 2005, 3 TG 765/05). Doch selbst wenn man der Auslegung durch die oberste hessische Ausländerbehörde folgte, hätte unter dem Verhältnismäßigkeitsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG eine Zumutbarkeitsprüfung stattzufinden.

Bei Anwendung dieser dergestalt auszulegenden Rechtsvorschrift stehen den Klägern Aufenthaltserlaubnisse grundsätzlich zu, zumal sie seit dem rechtskräftig negativen Abschluss ihrer Asylverfahren vollziehbar ausreisepflichtig sind, ihre Abschiebung jedoch seitdem ­ das heißt seit mehr als 18 Monaten ­ ausgesetzt ist. In der Gesamtschau aller Umstände des hier zu beurteilenden Sachverhaltes geht das Gericht davon aus, dass den Klägern die ­ freiwillige ­ Ausreise in ihr Heimatland (Serbien und Montenegro) aus den in § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG genannten Gründen nicht mehr möglich, das heißt im hier gegebenen Fall nicht mehr zumutbar ist. Dasselbe trifft im Hinblick auf die hypothetische Abschiebung zu.

Aus gegenwärtiger Sicht - die 49 und 41 Jahre alten Kläger zu 1. und 2. leben seit nunmehr über 13 bzw. 11 Jahren und ihre Kinder entweder seit der Geburt (Klägerin zu 6.) oder bereits als Kinder im Alter zwischen fünf und zehn Jahren in der Bundesrepublik - ist jedoch festzustellen, dass die Familie der Kläger in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht faktisch in die Bundesrepublik Deutschland und die hier herrschenden Lebensverhältnisse integriert ist.

Im Hinblick auf diese zwischenzeitlich eingetretene faktische Integration der Kläger in die bundesrepublikanische Lebenswirklichkeit, die auf der bis zum Ende des Jahres 2004 bestehenden Rechtslage noch zu keinem Aufenthaltsanspruch führen konnte, erscheint es für das Gericht entgegen der Auffassung des Beklagten für die Kläger jetzt nicht mehr zumutbar, nach Serbien und Montenegro, hier insbesondere in ihre Heimatprovinz, das Kosovo, auszureisen. Abgesehen davon, dass die erwachsenen Kläger zu 1. und 2. seit mehr als 13 bzw. 11 Jahren außerhalb ihres Heimatlandes leben, sind ihre Kinder, die Kläger zu 3. bis 6. entweder im Kindergarten- bzw. Grundschulalter in die Bundesrepublik Deutschland gekommen bzw. (die Klägerin zu 6.) hier geboren, kennen somit das Land ihrer Nationalität nicht bzw. nicht in bedeutsamen Umfang, und sie sprechen dessen Sprache auch nicht bzw. nicht ausreichend. Nach Auffassung der Kammer bieten weder das Vorbringen der Kläger noch der Inhalt der Behördenakten des Beklagten oder dessen Sachvortrag Anhaltspunkte dafür, dass die in der Bundesrepublik Deutschland in dem beschriebenen Umfang integrierten Kläger in ihr Heimatland bzw. das Land ihrer Nationalität zurückkehren könnten, ohne dort auf sehr große bzw. unüberwindliche Hindernisse bei der (Re-)Integration zu stoßen.

Für das Gericht liegt es auf der Hand - und das wird durch das Vorbringen des Beklagten auch nicht in Frage gestellt -, dass nach einer hypothetischen Rückkehr der Kläger nach Serbien und Montenegro die Schaffung einer Lebensgrundlage in diesem vom früheren Krieg oder von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen immer noch gezeichnete Land zu einer sehr schweren, wahrscheinlich sogar nicht zufriedenstellend lösbaren Aufgabe werden dürfte. Erschwerend würde hinzutreten, dass die Familie der Kläger aus dem eher unterentwickelten Kosovo stammt. Erschwert würde die Suche nach einer Lebensgrundlage ferner dadurch, dass die Kläger zu 1. und 2. durch den langjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erheblichen Abstand von der Lebenssituation in ihrem Heimatland erfahren haben und nach der hypothetischen Rückkehr nach Serbien und Montenegro nicht nur für sich sondern auch für ihre vier Kinder, jedenfalls für die noch minderjährigen Kläger zu 5. und 6., ein ausreichendes Familieneinkommen erzielen müssten.

Des ungeachtet tritt hinzu, dass eine Rückkehr in das Land ihrer Nationalität jedenfalls für die Kläger zu 3. bis 6., die seit Geburt oder seit früher Kindheit in Deutschland leben, eine derart gravierende Veränderung ihrer Lebensumstände (Schule, Lebensumfeld, Sprachraum, Ausbildungs- und Arbeitsplatzsituation) bedeuten würde, die offenkundig die Gefahr einer Persönlichkeits- oder Wesensveränderung mit sich bringt. Solches zu verhindern, ist - wie oben (S. 7 f.) dargestellt - die Motivation des Bundesgesetzgebers gewesen, als er die Rechtsvorschrift des § 25 Abs. 5 AufenthG schuf.

Alles in allem ist den Klägern die Ausreise nach Serbien und Montenegro nicht zuzumuten und dabei weiter auch zu berücksichtigen, dass die gegenwärtige Lage in diesem Land, wie sie sich nach den allgemein bekannten und zugänglichen Tatsachen darstellt, speziell im Kosovo alles andere als ruhig und befriedet gelten kann. Ferner ist darauf abzustellen, dass der Beklagte bzw. sein Rechtsvorgänger die faktische Integration der Kläger im Anschluss an den negativen Abschluss ihrer Asylverfahren durch die weitere Duldung im Bundesgebiet im hohen Maße begünstigt hat. Die Abschaffung der sogenannten "Kettenduldung" für faktisch integrierte Ausländer wie die Kläger, die letztlich unverschuldet an ihrer Ausreise gehindert sind - Verschulden im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG liegt nicht vor -, als Intention des Gesetzgebers führt nach Auffassung der Kammer dazu, dass den Klägern abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, zumal mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse aus heutiger Sicht in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.

Die dementsprechende Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen besteht aber im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht; die Rechtssache ist im Hinblick auf die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Sicherung des Lebensunterhalts) noch nicht spruchreif. Mit den im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der Kammer zur Verfügung stehenden Informationen über die wirtschaftliche und soziale Situation der Kläger ist es nicht möglich, mit Verbindlichkeit festzustellen, ob die Kläger ihren Lebensunterhalt zu diesem Zeitpunkt aus eigenen Kräften vollständig sichern können.

Falls bei dieser, von dem Beklagten noch vorzunehmenden Prüfung der vollständigen Sicherung des Lebensunterhalts festgestellt würde, dass die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG weiterhin nicht erfüllt wären, müsste die Ausländerbehörde im Rahmen einer (weiteren) Prüfung überlegen, ob sie von dieser allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach Betätigung sachgerechten Ermessens im Sinn des § 5 Abs. 3 2. Halbsatz AufenthG absieht. Während nach § 5 Abs. 3 1. Halbsatz AufenthG in bestimmten Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels von der Anwendung unter anderem des Erfordernisses eigener Lebensunterhaltsicherung abgesehen werden muss, ist dies in den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels unter anderem nach § 25 Abs. 5 AufenthG in das Ermessen der zuständigen Behörde gestellt. Hierbei hat die zuständige Ausländerbehörde zunächst die Stellung des Abs. 5 im Rahmen des § 25 und hier die oben (S. 7 f.) beschriebene Intention des Gesetzgebers zu beachten. Ferner ist im Fall der Kläger entscheidend, dass sie nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG quasi einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis haben, nachdem keine Umstände bekannt sind, die das Abweichen von dieser Sollbestimmung rechtfertigen könnten. Schließlich ist in diesem Zusammenhang weiter bedeutsam, dass die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, die ausschließlich humanitären Gesichtspunkten Rechnung tragen soll, konterkariert, d. h. in ihrer humanitären Zielrichtung erheblich relativiert oder sogar bedeutungslos würde, wenn übersehen würde, dass die Kläger zum weitaus größten Teil ihren Lebensunterhalt bisher schon alleine sichern können. Von diesen Überlegungen ausgehend, spricht nach der Überzeugung der Kammer gegenwärtig vieles dafür, dass die Ermessensbetätigung der Ausländerbehörde, die wiederum gerichtlich überprüfbar ist, zu Gunsten der Kläger ausgehen dürfte, wenn nicht bisher völlig unbekannte Tatsachen ein anderes Bild der Situation vermitteln.