VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 29.09.2005 - A 8 K 12639/05 - asyl.net: M7674
https://www.asyl.net/rsdb/M7674
Leitsatz:

Gefahren wegen psychischer Erkrankungen stellen keine allgemeine Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar; posttraumatische Belastungsstörung im Kosovo nicht ausreichend behandelbar; Behandlung im übrigen Serbien und Montenegro wegen Gefahr der Retraumatisierung ausgeschlossen.

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Widerruf, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Retraumatisierung, interne Fluchtalternative, allgemeine Gefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Gefahren wegen psychischer Erkrankungen stellen keine allgemeine Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar; posttraumatische Belastungsstörung im Kosovo nicht ausreichend behandelbar; Behandlung im übrigen Serbien und Montenegro wegen Gefahr der Retraumatisierung ausgeschlossen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Den dem Verwaltungsgericht vorliegenden Erkenntnisquellen über den Zustand des Gesundheitswesens im Kosovo, insbesondere über die Möglichkeiten einer Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen durch dortige Krankenhäuser und Ärzte, lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Erkrankung der Klägerin im Kosovo hinreichend behandelt werden könnte. Dies begründet die Gefahr einer Verfestigung und Verstärkung der Krankheitssymptome, was eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit der Klägerin darstellt. Zwar gibt es einzelne privat praktizierende Fachärzte für Psychiatrie. Die Behandlungsplätze im privaten Bereich sind jedoch sehr begrenzt und die Kosten muss der Patient selbst tragen (AA, Lageberichte Serbien und Montenegro - Kosovo - vom 10.02.2004 und v. 04.11.2004). Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen kann nicht davon ausgegangen werden, dass jede Person, die eine psychotherapeutische Behandlung benötigt, eine solche auch in angemessener Zeit und in wenigstens ausreichender Qualität erfährt. So wird von zum Teil sehr langen Wartezeiten berichtet sowie darüber, dass in vielen Fällen lediglich eine Behandlung durch die Verabreichung von Medikamenten erfolgt, wodurch aber eine wirkliche Heilung nicht herbeigeführt werden kann (vgl. UNHCR, Auskünfte v. 29.9.2003 an VG Koblenz und v. 26.11.2003 an Rechtsanwalt Vesin; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Die medizinische Versorgungslage im Kosovo, Mai 2004, Seite 13ff; Dr. Schlüter-Müller, Gutachten v. 29.07.2003 an VG Frankfurt = Asylmagazin 11/2003, 25; AA, Lageberichte vom 10.2.2004 und v. und v. 04.11.2004; Auskunft v. 20.11.2003 an VG Kassel; Deutsches Verbindungsbüro Kosovo, Auskunft v. 04.06.2004 an VG Stuttgart, vom 6.8.2002 an VG Würzburg u. vom 11.3.2002 an VG Schwerin).

Vor dem Hintergrund dieser Auskunftslage erscheint für das erkennende Gericht äußerst fraglich, ob jedenfalls in einem schwerwiegenden Erkrankungsfall wie dem der Klägerin die hinreichende Gewähr dafür besteht, dass die notwendige fachpsychologische Traumatherapie, die sich nach dem derzeitigen Stand vorliegend noch für mindestens ein bis zwei Jahre notwendig, im Kosovo fortgeführt werden kann.

Unabhängig davon ist jedoch nach den auch insoweit überzeugenden Ausführungen der behandelnden Diplom-Psychologin davon auszugehen, dass bei der Klägerin bei einer Rückkehr in den Kosovo, wo das traumatisierende Ereignis stattgefunden hat, die ernstliche Gefahr der Retraumatisierung besteht, welche die Fortführung der begonnenen Behandlung unabhängig von den dortigen Behandlungsmöglichkeiten unmöglich macht und eine gravierende und nachhaltige Verschlimmerung ihres Krankheitsbefundes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit befürchten lässt.

Eine Fortführung der Behandlung der Klägerin im restlichen Teil von Serbien und Montenegro scheidet nach der Überzeugung des Gerichts von Vornherein aus.

Zwar sind psychische Erkrankungen wie Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen in Serbien und Montenegro nach den vorliegenden Erkenntnismitteln grundsätzlich behandelbar (vgl. AA, Lagebericht zu Serbien und Montenegro - ohne Kosovo - vom 28.07.2003). Es ist jedoch offenkundig, dass eine erfolgreiche Behandlung der Klägerin in Serbien und Montenegro nicht in Betracht kommt. Die Diplom-Psychologin ... hat hierzu anschaulich dargestellt, dass die Klägerin schon in der psychologischen Behandlung zurückgeworfen wird und einen sog. flashback erleidet, wenn sie nur die serbische Sprache hört. Erst Recht könnte sie im derzeitigen Behandlungsstadium nicht damit umgehen, in den serbischen Staat zurückgeschickt zu werden, sodass insoweit erst Recht eine Retraumatisierung drohen würde, die nicht in Kauf genommen werden kann.

Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, ob die Krankenversorgung in Serbien und Montenegro für die Klägerin individuell erreichbar wäre, was ebenfalls nicht sicher erscheint, zumal die administrative Grenze zwischen dem Kosovo und dem übrigen Serbien und Montenegro streng kontrolliert wird. Es ist keineswegs sicher, dass Personen aus dem Kosovo die Einreise nach Serbien gewährt wird. Erschwerend kommt hinzu, dass für die Einreise jugoslawische Dokumente notwendig sind. Die von der UN-Verwaltung im Kosovo ausgestellten Personal- und Reisedokumente werden im restlichen Serbien und Montenegro nicht anerkannt. Im Übrigen setzt der Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem eine Wohnsitznahme in Serbien voraus. Eine solche ist aber nur möglich für Personen, die über serbische Personalpapiere verfügen (vgl. UNHCR, Stellungnahme v. 04.09.2003 an VG Koblenz - Asylmagazin 10/2003, 23 und Stellungnahme v. 29.09.2003 an VG Koblenz).

Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird schließlich auch nicht durch dessen Satz 2 ausgeschlossen.

Zwar mag zutreffen, dass die Anzahl traumatisierter Albaner aus dem Kosovo recht groß ist. Für die Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und die insoweit sich aus Satz 2 dieser Vorschrift ergebende Begrenzung kommt es jedoch allein auf solche Erkrankungen an, bei denen bei einer Abschiebung die in dieser Vorschrift genannten Gefahren bestehen. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung bestehen jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass in jedem Fall davon auszugehen ist, dass die Rückkehr in den Kosovo Gefahren erwarten lässt, die die Notwendigkeit von Abschiebungsschutz begründen. Es liegt in der Natur einer psychischen Erkrankung, die auf von vielen Menschen in gleicher oder ähnlicher Weise erlebten Ereignissen beruht, dass sie nicht allein durch diese Ereignisse entsteht, sondern vielmehr in der Individualität des Erlebenden ihre Ursache hat. Personen, die in Folge individueller Ereignisse traumatisiert sind, stellen somit keine Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dar (vgl. ebenso zu § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG OVG Münster, B. v. 19.11.1999 - 19 B 1599/98 und B. v. 16.02.2004 - 14 A 548/04.A - Juris = Asylmagazin 6/2004,30; VG Göttingen, Urt. v. 05.09.2003, Asylmagazin 12/2003, 26; VG Oldenburg, U. v. 27.01.2004, Asylmagazin 6/2004, 33).