VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 20.09.2005 - 6 K 1084/02.A - asyl.net: M7680
https://www.asyl.net/rsdb/M7680
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen rassistischer Übergriffe in Russland.

 

Schlagwörter: Russland, Nigerianer, Rassismus, Übergriffe, RNE, Russkoje Nationalnoje Edinstwo, nichtstaatliche Verfolgung, Nationalisten, Woronesch, Skinheads, Mischehen, gemischt-ethnische Abstammung, soziale Gruppe, Schutzbereitschaft, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung wegen rassistischer Übergriffe in Russland.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Beklagte ist verpflichtet, unter entsprechender Abänderung des angefochtenen Bescheides festzustellen, dass hinsichtlich der Klägerinnen ein asylrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG besteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. Die Klägerinnen haben ihren Heimatort Woronesch wegen politischer Verfolgung durch die RNE (Russkoje Nationalnoje Edinstwo) verlassen (1.1.). Hinsichtlich des Verfolgers liegen die Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG vor (1.2.). Eine inländische Fluchtalternative besteht nicht (1.3.). Im Einzelnen:

1.1. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist davon auszugehen, dass die extrem russisch-national orientierte Jugendgruppierung RNE in Woronesch es sich zum Ziel gesetzt hatte, gerade die Klägerinnen unter Androhung brachialer Gewalt entweder zum Verlassen der Stadt und des Landes zu bewegen oder den Klägerinnen Gewalt anzutun, nachdem der Ehemann der Klägerin zu 1. von Mitgliedern dieser Gruppierung einige Zeit zuvor zusammengeschlagen worden und bereits ausgereist war. Angesichts dieser Bedrohung sind die Klägerinnen ausgereist.

Die Feststellung des individuellen Verfolgungsgeschehens beruht auf den glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1. Sie hat unter Angabe genauer Einzelheiten glaubhaft dargelegt, welche Informationen die RNE über die Familie der Klägerinnen gesammelt hatte, in welcher Weise die Klägerin zu 1. von Mitgliedern der RNE gezielt "bearbeitet" worden ist und dass die Drohungen ernsthaft und nachhaltig waren.

Die Klägerinnen befanden sich bei ihrer Ausreise in einer ausweglosen Lage im Sinne des Asylrechts. Die Klägerin zu 1. hatte begründeten Anlass, die entsprechenden hartnäckigen Drohungen der RNE ernst zu nehmen. Denn bei der RNE in Woronesch handelt es sich um eine teilweise paramilitärisch organisierte rassistische Gruppierung, deren Ziel es ist, gemischte Ehen gezielt mit kriminellen Mitteln zu verfolgen (Auskunft des Auswärtiges Amtes an das VG Bremen vom 03.02.2003). Aus den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen ergeben sich etliche Referenzfälle (vgl. amnesty international - ai - Jahresberichte 2002 bis 2005 zur Russischen Föderation, ai, Rassismus und Diskriminierung ethnischer Minderheiten - Solidarität für Russland, Monographie 2003), in denen rassistisch orientierte Gruppierungen wie die RNE Übergriffe auf gemischt farbige Familien vorgenommen haben. Allein aus Woronesch, einer der Hochburgen rassistischer Übergriffe in russischen Städten, sollen in den letzten Jahren insgesamt 7 rassistisch motivierte Morde an ausländischen Studenten dokumentiert sein (vgl.Russland-aktuell, www.aktuell.ru/russland/reportagen/woronesch_naehrboden_fuer_rechte_schlaeger_37.html). Ehepartner und Kinder dunkelfarbiger Studierender gehören häufig zu den Opfern rassistisch motivierter Übergriffe und Repressionen (ai, Stn. vom 04.02.2004, S. 3; Russland-aktuell, a.a.O.).

Unter diesen Umständen ist hinreichend durch Tatsachen belegt, dass eine nach Art und Ausmaß asylerhebliche Verfolgung der Klägerinnen zwar noch nicht eingetreten war, jedoch unmittelbar bevorstand.

Die Verfolgung ist eine politische im Sinne des Asylrechts, weil sie auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gerichtet ist. Sie zielt auf das "Muster" einer gemischten Familie, bei der einer der Elternteile russischer Nationalität ist und der andere eine dunkle Hautfarbe hat (vgl. ai, Stellungnahme vom 04.02.2004, S. 2, US State Department, Menschenrechtsbericht 2002 zur Russischen Föderation). Solche Familien mit Kindern sind besonders stark betroffen.

1.2. Die Verfolgung durch die RNE erfüllt sie Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG.

Nach dieser Bestimmung kann politische Verfolgung i.S.d. asylrechtlichen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder staatsbeherrschende Parteien oder Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. An der Beurteilung der Schutzwilligkeit und -bereitschaft des Staates hat sich durch diese Vorschrift gegenüber dem bisherigen Recht nichts geändert (vgl. Begründung zu § 60 Abs. 1 AufenthG, abgedruckt in: GK AufenthG § 60). Schutzunwilligkeit besteht nach st. Rspr., wenn der Staat nicht mit den zur Verfügung stehenden und zum Schutz anderer Gruppen eingesetzten Kräften Schutz gewährt; dabei muss die Intensität der Schutzgewährung dem Grad der Bedrängnis entsprechen (BVerfGE 83, 216 <235>). Ein Indiz für die Schutzbereitschaft des Staates ist, inwieweit die Übergriffe "zum politischen System des Staates passen" (GK AsylVfG, a. a. O., Rdn. 60).

Zur Frage der Schutzgewährung bestehen folgende Erkenntnisse:

Nach der Auskunft des Auswärtiges Amtes vom 03.02.2003 an das VG Bremen verfolgen russische Behörden rassistische Gewalttaten zumeist nur als normale kriminelle Straftaten wie Raub etc., nicht spezifisch als rassistische Straftaten. Im Lagebericht des Auswärtiges Amtes vom 26.03.2004 heißt es, Nichtregierungsorganisationen bemängelten, dass es bisher keine energische und systematische Abwehr- und Aufklärungspolitik des Staates gegen rassistische Aktivitäten und Übergriffe gebe. Desgleichen würden antisemitische Vorfälle von Regierungsseite in der Regel zwar verurteilt, aber nicht wirklich konsequent verfolgt. Außerdem wird im genannten Lagebericht (S. 5) darauf hingewiesen, dass Fremdenfeindlichkeit sowie Diskriminierung und Willkür gegen bestimmte Minderheiten durch Behörden und Sicherheitskräfte zu den Hauptproblemfeldern im Menschenrechtsbereich in Russland gehörten.

Amnesty International legt in seiner Stellungnahme vom 04.02.2004 (S. 4) dar, dass die Strafverfolgungsbehörden es in der überwältigenden Mehrheit der Fälle versäumt hätten, rassistisch motivierte Gewalt mit Mitteln der Strafverfolgung zu bekämpfen. Das werde u. a. durch Recherchen der Task Force Rassismus der protestantischen Gemeinde in Moskau belegt. Diese Organisation habe sich mit 204 Übergriffen beschäftigt, die im Zeitraum Mai 2001 bis April 2002 gegenüber Afrikanern vorgenommen worden seien. 61 dieser Fälle seien zur Anzeige gebracht worden; nur in einem Viertel der angezeigten Fälle habe die Polizei Ermittlungen aufgenommen. In 7 % der Fälle seien Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet worden und letztlich seien nur in 2 Fällen (= ca. 1% der erfassten Fälle) die Täter einer Straftat für schuldig befunden worden. Recherchen von ai hätten ergeben, dass rassistische Übergriffe oftmals der Polizei nicht gemeldet würden, weil Opfer weitere Misshandlungen durch die Ordnungskräfte selbst befürchten. Solche Misshandlungen seien nach Erkenntnissen von ai in einigen Fällen belegt und daher nicht auszuschließen.

Im April 2002 haben praktisch sämtliche diplomatischen Vertretungen in Moskau sich in einem Memorandum an den russischen Außenminister gewandt und darin die Untätigkeit der Behörden bei rassistischen Übergriffen und deren Verharmlosung durch Polizei und Gerichte beklagt. Sie forderten die russischen Stellen dazu auf, effektivere Schutzmaßnahmen für dunkelfarbige Botschaftsangehörige und deren Familienmitgliedern zu ergreifen (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 25.04.2002). Auch sonst wird in der Presse verbreitet beklagt, dass staatliche Ordnungskräfte oft nichts unternähmen, um die Verantwortlichen rassistisch motivierter Übergriffe zur Rechenschaft zu ziehen (vgl. Deutsche Welle 18.03.2004, Fremdenfeindlichkeit in Russland).

Das Gericht kommt aufgrund der ausgewerteten Quellen zu dem Ergebnis, dass Opfer rassistischer Übergriffe regelmäßig keinen der Bedrängnis angemessenen staatlichen Strafrechtsschutz erlangen können. Demtentsprechend hätten auch die Klägerinnen als Angehörige einer gemischt-rassischen Familie keinen effektiven strafrechtlichen Rechtsgüterschutz durch die russischen Strafverfolgungsbehörden zu erwarten gehabt. Nach der ausgewerteten Erkenntnislage ist anzunehmen, dass zum Schutz anderer Gruppen polizeiliche Kräfte eingesetzt worden wären. Denn generell werden Straftaten wie Drohungen mit Mord oder Vergewaltigung in der Russischen Föderation durchaus von der Polizei verfolgt. Zwar mag die Verfolgung z. B. wegen verbreiteter Korruption, Ermittlungsdefiziten und allgemeiner Willkür nicht stets so effektiv sein, wie man es nach westeuropäischen Standards erwarten wollte. Dies allein erklärt aber nicht, dass z. B. von den 204 von der Task Force Rassismus der protestantischen Gemeinde in Moskau ausgewerteten Fällen nur 2 zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt haben. Vielmehr indiziert die vergleichsweise extrem geringe Anzahl von Verurteilungen zumindest auch eine Voreingenommenheit der Strafverfolger gerade gegenüber den Opfern von Rassismus. Ein Anhalt dafür, den Beweiswert der von der Task Force Rassismus erhobenen Daten als gering einzustufen, besteht nicht. Es ist kein Zweifel an der zuverlässigen Recherche der Daten ersichtlich und sie beziehen sich auf die Situation in einer russischen Großstadt in der Zeit vor der Ausreise der Klägerinnen.

1.3. Den Klägerinnen stand im Ausreisezeitpunkt keine inländische Fluchtalternative zur Seite.

Nach diesen Grundsätzen waren die Klägerinnen bei ihrer Ausreise im März 2002 in anderen Landesteilen nicht hinreichend sicher vor rassistisch motivierten Gewalttaten. In Russland soll es insgesamt ca. 50.000 rechtsextreme sog. "Skinheads" geben (vgl. noracism.net/article/863). AI (Stn. vom 04.02.2004 an das VG Kassel) macht in Übereinstimmung mit dem Bericht des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung CERD (Concluding observations of the Committee on the Elimination of Racial Discrimination: Russian Federation, 21 March 2003, CERD/C/62/CO/11, Punkt 13) in seinen Schlussfolgerungen keine regionalen Unterschiede hinsichtlich der Gefahr rassistischer Verfolgung, weil aus den unterschiedlichsten Regionen und Städten der Russischen Förderation über zahlreiche rassistisch motivierte Gewalttaten in der russischen Presse wie auch in Radio Free Europe /Radio Liberty berichtet worden sei. Diese Berichte über Gewalttaten kämen nicht nur aus Moskau, St. Petersburg und Woronesch, sondern auch aus dem Nordwesten (z. B. Gebiet Leningrad, Republik Karelien), aus dem Nordkaukasus (z. B. Gebiete Wolgograd und Krasnodar), aus der Wolgaregion (z. B. Republik Marij El und Gebiet Nischni Nowgorod), auch dem Ural (z. B. Gebiet Swerdlowsk) und aus Sibirien (z. B. Gebiet Nowosibirsk). Es muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden (ai, Stn. vom 04.02.2004 an das VG Kassel). Rassistisch motivierte Überfälle ohne Todesfolgen sind den meisten russischen Medien kaum eine Schlagzeile wert (Russland-aktuell, a. a. O.).

Der Lagebericht des Auswärtiges Amtes vom 26.03.2004 steht dieser Einschätzung nicht entgegen. Danach besteht die Gefahr fremdenfeindlicher Übergriffe durch extremistische Jugendgruppen und sog. "Skinheads" insbesondere in den großen Städten und in Südrussland. Denn aus der Benennung dieser Schwerpunkte, die ai ähnlich beschreibt, lässt sich nicht schließen, dass die Klägerinnen in anderen Landesteilen nur ganz entfernt mit der Möglichkeit rassistischer Übergriffe rechnen müssten, zumal die Klägerin zu 2. allein durch ihre Hautfarbe gefährdet wäre und die Klägerin zu 1. sich in Begleitung der Klägerin zu 2. schon äußerlich als Mutter eines Mischlingskindes darstellen würde. Ein Teilgebiet der Russischen Föderation, in dem im Falle einer Ansiedlung der Klägerinnen die Gefahr einer abermaligen Verfolgung aus rassistischen Gründen hinreichend sicher ausgeschlossen werden kann, lässt sich auch den sachverständigen Äußerungen des Auswärtiges Amtes nicht entnehmen.

Die Verfolgung, vor der die Klägerinnen in anderen Landesteilen nicht hinreichend sicher wären, stellte sich im Verhältnis zu ihrer regionalen Verfolgungsbetroffenheit als gleichartige Verfolgung dar. Denn unabhängig davon, ob die Klägerinnen in anderen Landesteilen mit Übergriffen der RNE oder mit Übergriffen durch andere rassistisch motivierte Akteure rechnen müssten, ginge es jeweils um rassistisch motivierte Gewalttaten, die an das Muster einer gemischten Ehe anknüpfen.

2. Den hiernach vorverfolgt ausgereisten Klägerinnen ist die Rückkehr in die Russische Föderation nicht zuzumuten, weil sie nach dem anzulegenden herabgesetzten Prognosemaßstab auch im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht hinreichend sicher vor erneuter gleichartiger Verfolgung sind.