OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 05.10.2005 - 11 ME 247/05 - asyl.net: M7681
https://www.asyl.net/rsdb/M7681
Leitsatz:

Der von Art. 28 Abs. 3 a der Richtlinie 2004/38/EG vermittelte weitgehende Ausweisungsschutz kommt jedenfalls derzeit assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen nicht zugute (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 6.6.2005 - 11 ME 39/05 -, NVwZ-RR 2005, 654).

 

Schlagwörter: Ausweisung, Ausweisungsschutz, Türken, Assoziationsberechtigte, Unionsbürger, Freizügigkeit, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Aufenthaltsgesetz, Ermessensausweisung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Abänderungsantrag
Normen: RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3a; AufenthG § 55; VwGO § 80 Abs. 7
Auszüge:

Der von Art. 28 Abs. 3 a der Richtlinie 2004/38/EG vermittelte weitgehende Ausweisungsschutz kommt jedenfalls derzeit assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen nicht zugute (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 6.6.2005 - 11 ME 39/05 -, NVwZ-RR 2005, 654).

(Amtlicher Leitsatz)

 

Der Senat hat sich im Beschluss vom 6. Juni 2005 (a.a.O.) auf den Standpunkt gestellt, dass der Ausweisung des Antragstellers voraussichtlich nicht der gemeinschaftsrechtliche Verhältnismaßstab entgegen stehe.

Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG läuft erst am 30. April 2006 ab (Art. 40 und 41). Vor Ablauf der Umsetzungsfrist entfaltet eine Richtlinie keine unmittelbare Wirkung (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 4.7.2005 - 18 B 1635/04 -; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 -, InfAuslR 2005, 296 = NVwZ 2005, 1098; BayVGH, Urt. v. 7.4.2005 - 14 B 02.30878 -).

Der Senat verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (vgl. etwa Urt. v. 10.2.2000 - Rs.C-340/97 -, DVBl. 2000, 550; Urt. v. 11.11.2004 - Rs.C-467/02 -, DVBl. 2005, 103; Urt. v. 2.6.2005, a.a.O.) die in Art. 39 ff. EGV verankerten Freizügigkeitsrechte so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer übertragen werden sollen, die eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 besitzen. Eine solche Auslegung sei durch das in Art. 12 des Assoziationsabkommens genannte Ziel gerechtfertigt, schrittweise die Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer herzustellen. Da andererseits aber eine völlige Gleichstellung mit Unionsbürgern nicht festzustellen ist (vgl. Wenger, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Zimmermann-Kreher, Kommentar zum Zuwanderungsgesetz, 2005, § 1 AufenthG Rdnr. 10), ist der nationale Gesetzgeber nicht gehindert, auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige das allgemeine Ausländerrecht unter Berücksichtigung der Sonderstellung dieses Personenkreises für anwendbar zu erklären (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 16.3.2005 - 18 B 1751/04 -). Dementsprechend wird in § 4 Abs. 1 und 5 AufenthG davon ausgegangen, dass für Ausländer, denen nach dem ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht zusteht, grundsätzlich das Aufenthaltsgesetz in vollem Umfang und nicht nur - wie für Unionsbürger durch § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG und durch die Verweisung in § 11 Abs. 1 FreizügG-EU geregelt - in eingeschränktem Umfang gilt (vgl. Zimmermann-Kreher, a.a.O., § 1 FreizügG-EU Rdnr. 13). Auch das FreizügG-EU erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut ausschließlich Unionsbürger und deren Familienangehörige (vgl. dessen § 1).

Allerdings genießt ein türkischer Staatsangehöriger, der ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 besitzt, erhöhten Ausweisungsschutz und kann sich auf weitere Begünstigungen berufen (vgl. Dörig, Erhöhter Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige, DVBl. 2005, 1221).

Aber selbst wenn man entgegen den vorstehenden Darlegungen der Auffassung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes (Beschl. v. 2.5.2005, a.a.O.) folgen würde, dass der von der Richtlinie 2004/38/EG vermittelte Ausweisungsschutz schon vor deren unmittelbarer Anwendbarkeit dem heutigen gemeinschaftsrechtlichen Stand der Freizügigkeitsrechte entspreche und bei der Entscheidung über die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zu berücksichtigen sei, würde dies dem Antragsteller nicht weiterhelfen. Denn der Hessische Verwaltungsgerichtshof gelangt nicht zu dem Ergebnis, dass ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger mit über 10-jährigem Inlandsaufenthalt nur - wie in Art. 28 Abs. 3 a der Richtlinie 2004/38/EG für einen Unionsbürger vorgesehen - aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden darf, sondern er hält lediglich "eine spezifische Berücksichtigung und Gewichtung des Umstandes, dass ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, in den Ermessenserwägungen einer Ausweisungsverfügung" für erforderlich. Damit geht auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof generell von der Anwendbarkeit des § 55 AufenthG aus. Im vorliegenden Fall haben die Antragsgegnerin und sowohl das Verwaltungsgericht als auch der Senat den genannten Umstand berücksichtigt, ihm jedoch keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen, da das Verhalten des Antragstellers bis zum heutigen Zeitpunkt die Besorgnis rechtfertige, er werde auch in Zukunft weitere schwere Straftaten begehen.