SG Aurich

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Zitieren als:
SG Aurich, Beschluss vom 08.03.2005 - S 19 AY 4/05 ER - asyl.net: M7696
https://www.asyl.net/rsdb/M7696
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Folgeantrag, Mehrfachantragstellung, Kinder, sukzessive Asylantragstellung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit, Vorwegnahme der Hauptsache
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2; RL 2003/9/EG
Auszüge:

Der nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

Zwar schließt sich die Kammer der vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung im Grundsatz an, wonach bei einem glaubhaft gemachten Anspruch auf Gewährung (höherer) Leistungen bzw. Geldleistungen in Höhe der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz regelmäßig auch ein Anordnungsgrund besteht (vgl nur OVG Lüneburg, 06. Februar 2004 - 4 ME 494/03), sodass für das AsylbLG dem Hilfebedürftigen im Regelfall nicht zuzumuten ist, bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache mit den im Vergleich zu den Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG spürbar abgesenkten Grundleistungen (§ 3 AsylbLG) auskommen zu müssen.

Vorliegend werden den Antragstellern aber bereits seit Juni 2002 die höheren Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG verwehrt, ohne dass sie versucht hätten, deren Gewährung durch Stellung eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vorläufig durchzusetzen.

Zudem haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch, d.h. einen materiellen Anspruch auf Gewährung der begehrten (höheren) Leistungen, nicht glaubhaft gemacht. Gemäß der ab dem 1.1.2005 geltenden Neufassung des § 2 Abs 1 AsylbLG ist - abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG - das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über die Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten und (kumulativ) die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Entgegen der Auffassung der Antragsteller haben sie aber die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Hierunter ist ein in der Ausübung eines subjektiven Rechts bestehendes oder darauf bezogenes, von der Rechtsordnung missbilligtes, subjektiv vorwerfbares Verhalten eines Ausländers zu verstehen, das ursächlich für dessen tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet war oder ist. Diese Auslegung erschließt sich aus dem Wortlaut der Neufassung des § 2 Abs. 1 AsylbLG ("die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben"), der Entstehungsgeschichte der Norm, genauer: der ihr beigefügten Begründung (die beispielhaft die Vernichtung des Passes oder die Angabe einer falschen Identität nennt; BT-Drucks 15/420, S. 121) und der darin vorgenommenen Bezugnahme auf Art. 16 der inzwischen wirksam gewordenen Richtlinie 2003/9/EG vom 27.1.2003 (ABlEG 2003 Nr. L 31, S 18) und der danach den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zugebilligten leistungsrechtlichen Sanktionierung von "negativem Verhalten" eines Ausländers, aus dem systematischen Zusammenhang des § 2 Abs 1 AsylbLG mit § 1 a Nrn. 1 und 2 AsylbLG sowie aus dem allgemeinen Bedeutungsgehalt des Begriffs der Rechtsmissbräuchlichkeit im bürgerlichen und öffentlichen Recht. Zudem genügt diese Auslegung dem generellen Anliegen des Asylbewerberleistungsgesetzes, Ausländern jeglichen wirtschaftlichen Anreiz für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und ihren weiteren Verbleib zu nehmen, Schleußerbanden den wirtschaftlichen Nährboden für ihre Betätigung zu entziehen und die rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu vermeiden, sowie der speziellen Zielsetzung des § 2 Abs. 1 AsylbLG, nach Ablauf des 36-monatigen Leistungsbezugs prinzipiell Bedürfnisse des Ausländers anzuerkennen, die auf eine bessere soziale Integration gerichtet sind. Auch die vom Gesetzgeber mit der Neufassung verfolgte Intention, "zwischen denjenigen Ausländern zu unterscheiden, die unverschuldet nicht ausreisen können und denjenigen, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkommen" (BT-Drucks 15/420, S 121), stützt die hier vorgenommene Interpretation. Die ohne weitere Einschränkung in die Neufassung des § 2 Abs 1 AsylbLG aufgenommene Formulierung "Dauer des Aufenthalts" rechtfertigt es, in die Prüfung der Rechtsmissbräuchlichkeit grundsätzlich den gesamten Zeitraum des Aufenthalts des Ausländers, beginnend mit der Einreise und endend mit der Ausreise oder mit einem Leistungswechsel unmittelbar in das SGB XII (vgl § 1 Abs. 3 Nr 1 AsylbLG), in den Blick zu nehmen. Da ein während dieses Zeitraums ausgeübtes rechtsmissbräuchliches Verhalten regelmäßig fortwirkt, ist der daraus resultierende Ausschluss einer leistungsrechtlichen Besserstellung grundsätzlich von Dauer und wirkt auch über den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neufassung des § 2 Abs 1 AsylbLG hinaus. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann es allerdings im Einzelfall gebieten, aufgrund von Umständen, die nach einem festgestellten rechtsmissbräuchlichen Verhalten eingetreten sind, von dem grundsätzlich dauerhaften Ausschluss von Leistungen entsprechend dem SGB XII eine Ausnahme zuzulassen.

Gemessen an diesen Grundsätzen ist nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage von einer in der Vergangenheit mehrfach rechtsmissbräuchlich selbst beeinflussten Dauer des Aufenthalts der Antragsteller auszugehen, mit der Folge, dass ihnen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf die begehrten (höheren) Leistungen entsprechend dem SGB XII nicht zusteht.

All dies zeigt bei summarischer Prüfung, dass die Antragstellerin zu 1) gemeinsam mit ihrem Ehegatten schon im Zeitpunkt der Stellung ihres ersten Asylfolgeantrages in rechtsmissbräuchlicher Weise Einfluss auf die (weitere) Dauer ihres Aufenthaltes und den ihrer minderjährigen Kinder, die Antragsteller zu 2) bis 7) genommen hat. Statt ihrer vollziehbaren Ausreisepflicht nachzukommen, haben sie durch sukzessive, zeitversetzte Stellung von Asylerstanträgen für ihre im Bundesgebiet geborenen minderjährigen Kinder in subjektiv vorwerfbarer Weise die Dauer ihres Aufenthaltes in einer von der Rechtsordnung missbilligten Weise mehrfach verlängert.