LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.12.2005 - L 20 (9) B 10/05 AY - asyl.net: M7699
https://www.asyl.net/rsdb/M7699
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Bedürftigkeit, Vermögen, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: AsylbLG § 3; AsybLG § 7 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind erfüllt.

Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung).

Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist dies nicht möglich, ist eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05).

Dienen Leistungen - wie die Leistungen nach dem AsylbLG - der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens als verfassungsrechtlicher Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerfGE 82, 60 (80)) und unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit besteht (vgl. BVerfGE 35, 202 (235)), ist bei der Beurteilung der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller auf die gegenwärtige Lage abzustellen. Umstände der Vergangenheit dürfen insoweit herangezogen werden, als sie eindeutige Erkenntnisse über die gegenwärtige Lage des Anspruchstellers ermöglichen. Aus diesen Gründen dürfen existenzsichernde Leistungen nicht auf Grund bloßer Mutmaßungen verweigert werden, insbesondere wenn sich diese auf vergangene Umstände stützen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, a.a.O.). Die grundrechtlichen Belange der Antragstellerinnen sind dabei umfassend zu berücksichtigen.

Wie das BVerfG ausgeführt hat (a.a.O.), müssen sich die (Sozial-)Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 2003, S. 1236 (1237)). Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern.

Angesichts der Grundrechtsrelevanz der Versagung existenzsichernder Leistungen (vgl. BVerfG, a.a.O, s.o.) sind daher trotz unübersehbarer Ungereimtheiten (z.B. Herkunft von 500 EUR Barvermögen bei der versuchten Ausreise nach Kanada) Leistungen nach § 3 AsylbLG im tenorierten Umfang zu erbringen.

Der Senat hält eine abschließende Überprüfung der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerinnen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht für möglich, da keine hinreichenden Erkenntnisse zur Beurteilung der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerinnen, die nicht auf Umständen der Vergangenheit beruhen, vorliegen. Vielmehr sind hierzu weitere Ermittlungen erforderlich, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssen.

Die von der Antragsgegnerin z.T. begründet vorgebrachten Zweifel an den Angaben der Antragstellerinnen gründen weit überwiegend auf in der Vergangenheit liegenden Sachverhalten. Bezüglich der gegenwärtigen Situation sind die Ausführungen der Antragsgegnerin wenig konkret und im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend überprüfbar. Zum Teil handelt es sich um reine Vermutungen.

Aus der Kleidung der Antragstellerinnen auf vorhandene Einkünfte und Vermögen schließen zu können, hält der Senat angesichts des bestätigten Besuchs einer Kleiderkammer der Caritas für nicht möglich. Soweit die Antragsgegnerin insoweit auf "für Asylbewerber typische" Kleidung abzustellen scheint, vermag der Senat den Überlegungen bereits im Ansatz nicht zu folgen, weil er sie für ungeeignet hält. Die Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 11.04.2005, wonach "mit einem sehr gepflegten Äußeren und in hochwertiger, modischer und sicherlich nicht billiger Kleidung" aufgetreten werde, rechtfertigen den Rückschluss auf Vermögen und Einkünfte ohne nähere Darlegungen jedenfalls nicht.

Die Antragstellerinnen müssen sich nach Auffassung des Senats auch nicht auf weitergehende Hilfe von Bekannten, Freunden und Verwandten verweisen lassen. Der Umstand, dass die Antragstellerinnen keinerlei Zeichen von Mangelernährung zeigen, rechtfertigt nämlich sicherlich nicht die Annahme von verwertbarem Vermögen oder Einkünften. Die Antragstellerinnen haben bezüglich der Sicherstellung ihres Lebensunterhalts vielmehr (finanzielle) Hilfen Dritter in Anspruch genommen und diesbezüglich eine Forderungsaufstellung, die eine Verschuldung bei Dritten belegen soll. Insoweit vermag der Senat die von der Antragsgegnerin geäußerten Zweifel zwar (zum Teil) nachzuvollziehen; die abschließende Klärung muss auch insoweit aber dem Hauptsachverfahren vorbehalten bleiben. Die Inanspruchnahme der Hilfe von Kirchengemeinden erscheint darüber hinaus nachgewiesen. Im Übrigen schlösse die Bereitschaft Dritter, den Antragstellerinnen jenseits einer bestehenden Unterhaltsverpflichtung über eine finanzielle Notlage hinwegzuhelfen, Hilfebedürftigkeit im Sinne des AsylbLG nicht aus.