LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 06.09.2005 - L 6 VG 49/00 - asyl.net: M7711
https://www.asyl.net/rsdb/M7711
Leitsatz:

Ein Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) setzt nicht voraus, dass bereits im Tatzeitpunkt die persönlichen Voraussetzungen (hier: rechtmäßiger Aufenthalt nach § 1 Abs. 5 S. 1 AufenthG) vorliegen.

 

Schlagwörter: D (A), Opferentschädigungsgesetz, rechtmäßiger Aufenthalt, Duldung, humanitäre Gründe, Abschiebungshindernis, Passlosigkeit, Serbien und Montenegro, Kosovo
Normen: OEG § 1 Abs. 5 S. 1 Nr. 2; OEG § 1 Abs. 5 S. 2
Auszüge:

Ein Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) setzt nicht voraus, dass bereits im Tatzeitpunkt die persönlichen Voraussetzungen (hier: rechtmäßiger Aufenthalt nach § 1 Abs. 5 S. 1 AufenthG) vorliegen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Berufung des Klägers ist im Umfang des zuletzt gestellten Berufungsantrags begründet.

Der Kläger hat wegen der gesundheitlichen Folgen der Schussverletzung vom 02.03.1997 Anspruch auf Zahlung einer Versorgungsrente nach einer MdE um 40 v.H. im Zeitraum vom 09.04.1998 bis zum 30.09.1998.

Zwischen den Beteiligten ist entsprechend ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vom 06.09.2005 nicht im Streit, dass der Kläger am 02.03.1997 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden ist.

Der Kläger ist entgegen der Ansicht des Beklagten im Zeitraum April bis September 1998 auch leistungsberechtigt im Sinne des OEG. In diesem Zeitraum hat er die besonderen Voraussetzungen für die Leistungsberechtigung eines Ausländers gemäß § 1 Abs. 5 S. 1 Nr. 2 und S. 2 OEG erfüllt, weil er sich mehr als nur vorübergehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.

Nach § 1 Abs. 5 S. 1 OEG erhalten Ausländer, die sich rechtmäßig nicht nur für einen vorübergehenden Aufenthalt von längstens sechs Monaten im Bundesgebiet aufhalten, Versorgung nach folgenden Maßgaben:

1. Leistungen wie Deutsche erhalten Ausländer, die sich seit mindestens drei Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten;

2. ausschließlich einkommensabhängige Leistungen erhalten Ausländer, die sich ununterbrochen rechtmäßig noch nicht drei Jahre im Bundesgebiet aufhalten.

Rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne des OEG ist nach § 1 Abs. 5 S. 2 in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung dieses Gesetzes auch ein aus humanitären oder aus erheblichem öffentlichen Interesse geduldeter Aufenthalt. Der Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne des OEG ist damit weiter gefasst als der entsprechende Begriff im Ausländerrecht (hierzu BSG, Urteil vom 18.04.2001, B 9 VG 5/00 in SozR 3-3800 § 1 Nr. 19).

Der Kläger hielt sich zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses im März 1997 allerdings noch nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Nach den Feststellungen der Ausländerbehörde war er seinerzeit zur Ausreise verpflichtet. Die Rückführung rechtskräftig abgelehnter Asylbewerber in die damalige Bundesrepublik Jugoslawien war möglich und wurde auf der Grundlage des Abkommens über die Rückführung und Rückübernahme von ausreisepflichtigen deutschen und jugoslawischen Staatsangehörigen vom 10.10.1996 auch tatsächlich durchgeführt. Eine Abschiebung des Klägers konnte lediglich wegen des Fehlens von Rückführungsdokumenten noch nicht vorgenommen werden. Dies stellte ein rechtliches bzw. tatsächliches Abschiebehindernis dar, das nach § 1 Abs. 5 S. 2 OEG in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung nicht zum rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des § 1 Abs. 5 OEG führte. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Aufenthalt des Klägers damals aus humanitären Gründen oder aus erheblichem öffentlichen Interesse geduldet war.

Anders sah die Situation im Zeitraum nach der Antragstellung im April 1998 bis September 1998 aus, denn der Kläger konnte (auch) aus humanitären Gründen seit etwa Ende Februar 1998 nicht mehr in seine Heimat abgeschoben werden. Humanitäre Gründe sind solche Gründe, die wegen ihrer Eigenart und ihres Gewichts die (sofortige) Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen als unmenschlich erscheinen lassen, wobei nicht jede menschliche Schwierigkeit oder Härte bereits das Gewicht eines "humanitären Grundes" erreicht (BVerwG, Urteil vom 03.06.2003, 5 C 32/02 in NVwZ 2004, 491-494). Wegen der im Jahr 1998 eskalierenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der sogenannten Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) mit Massakern an der Bevölkerung (vgl. hierzu OVG Saarland, Urteil vom 18.01.1999, 3 R 83/98; Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker von August 1998) wäre es - was auch die Beteiligten nunmehr übereinstimmend annehmen -, unmenschlich gewesen, den Kläger zu dieser Zeit in seine Heimat zurückzuführen. Zu der Gewalteskalation im Kosovo kam es etwa Ende Februar/Anfang März 1998 (OVG NRW, Beschluss vom 16.11.1998, 13 A 4113/98.A in NVwZ 1999, Beilage Nr. 4, 34-35), so dass ab diesem Zeitpunkt humanitäre Gründe einer Abschiebung des Klägers entgegenstanden. Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass die vom Ausländeramt ausgesprochenen Duldungen nicht ausdrücklich auf humanitäre Gründe gestützt worden sind. Der Tatbestand des § 1 Abs. 5 S. 2 OEG setzt eine ausdrückliche Duldungserteilung durch die zuständige Ausländerbehörde nicht voraus (vgl. BSG, Urteil vom 18.04.2001, B 9 VG 5/00 in SozR 3-3800 § 1 OEG Nr. 19).

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist ein Leistungsanspruch des Klägers nicht dadurch (generell) ausgeschlossen, dass er sich zum Zeitpunkt der Schädigung (März 1997) nicht rechtmäßig im Sinne des OEG in der Bundesrepublik aufgehalten hat. Voraussetzung eines Leistungsanspruchs nach § 1 OEG ist nicht, dass sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen bereits zum Tatzeitpunkt vorgelegen haben. Sind - wie hier - die Voraussetzungen des Grundtatbestandes des § 1 Abs. 1 bis 3 OEG erfüllt, so ist der Beklagte - vorbehaltlich der Bestimmungen über die Antragstellung sowie eventueller Ausschlussgründe (z.B. §§ 2, 10 OEG) - dem ausländischen Geschädigten ab dem Zeitpunkt leistungspflichtig, ab dem er die besonderen Voraussetzungen für Ausländer (§ 1 Abs. 4 bis 6 OEG) erfüllt oder in die Bundesrepublik Deutschland eingebürgert wird. Ein Anspruch auf Versorgung kann danach auch entstehen, wenn sich wie vorliegend ein unrechtmäßiger Aufenthalt zu einem rechtmäßigen Aufenthalt wandelt (vgl. Kunz/Zellner, OEG, 4. Aufl. 1999, § 1 Rn 106).