BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 22.11.2005 - 2 BvR 1090/05 - asyl.net: M7721
https://www.asyl.net/rsdb/M7721
Leitsatz:
Schlagwörter: Vietnam, Auslieferung, Drogendelikte, rechtliches Gehör, Strafverfahren, Haftbedingungen, Zusicherung, lebenslange Freiheitsstrafe
Normen: GG Art. 103 Abs. 1; GG Art. 25; IRG § 10 Abs. 2
Auszüge:

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, da dies zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG angezeigt ist (§§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Das Kammergericht hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Es hat den Vortrag der Beschwerdeführerin zur Rechtstaatlichkeit des Strafverfahrens in Vietnam im Allgemeinen sowie zu Drogendelikten und zu ihrem Fall im Besonderen nicht hinreichend berücksichtigt. Dieser Vortrag war für die Entscheidung des Kammergerichts von zentraler Bedeutung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Entscheidung des Kammergerichts auf dem Gehörsverstoß beruht.

Das Kammergericht hat in keiner Entscheidung zu der grundsätzlichen Frage Stellung genommen, ob Strafverfahren in Vietnam rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügen und inwiefern dies bei Drogendelikten zusätzlich problematisch ist. Die Beschwerdeführerin hatte dazu immer wieder aktuelle und umfangreiche Auskünfte anerkannter Menschenrechtsorganisationen und verschiedener Regierungen sowie Zeitungsartikel vorgelegt.

Die Frage, ob die Verbindungen der Beschwerdeführerin zur Zigarettenmafia und zum Ausland sowie der behauptete bisherige Gang des Verfahrens in Vietnam zu weiteren rechtsstaatlichen Bedenken Anlass geben, streifte das Kammergericht nur. In seinem Beschluss vom 22. Dezember 2004 stellte das Kammergericht zunächst fest, dass die Beschwerdeführerin nicht plausibel dargetan habe, dass die Strafverfolgung einen staatlichen oder privaten Racheakt darstellte. Nachdem die Beschwerdeführerin im Schriftsatz vom 17. Februar 2005 weitere Anhaltspunkte für einen privaten Racheakt genannt hatte, ging das Kammergericht in der Zulässigkeitsentscheidung vom 12. Mai 2005 jedoch nur noch darauf ein, ob der Staat (und nicht Private) den Strafvorwurf gegen die Beschwerdeführerin konstruiert habe. Zwar ist das Gericht, wie dargelegt, nicht gezwungen, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden. Doch das Kammergericht war in einen Dialog zur Beschwerdeführerin getreten, indem es Substantiierungslücken zum Vorliegen eines privaten Racheakts aufgezeigt hatte. Damit hatte es zu erkennen gegeben, dass die Lücken relevant seien. Dann wäre es aber folgerichtig gewesen, die daraufhin vertieften Ausführungen der Beschwerdeführerin zu beachten.

Hinzu kommt, dass das Kammergericht sich auch mit den drei Stellungnahmen von Organisationen zur Rechtstaatlichkeit des Verfahrens im Fall der Beschwerdeführerin nicht auseinandergesetzt hat. Selbst behördliche Äußerungen fanden keinen Niederschlag in den Entscheidungen. So hat das Kammergericht die Einschätzungen der Generalstaatsanwaltschaft vom 8. Februar 2005 zur Schuldverdachtsprüfung und die Stellungnahme der Botschaft Hanoi zur Frage der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens nicht erwähnt. Die Beschwerdeführerin hatte sich ausdrücklich auf die Stellungnahmen bezogen.

Dagegen ging das Kammergericht im Beschluss vom 11. März 2005 ohne weitere Begründung von einem rechtsstaatlichen Strafverfahren im Fall der Beschwerdeführerin aus. Indem es ausführte, die Glaubwürdigkeit von Belastungszeugen könne nur in einer Hauptverhandlung geprüft werden, setzte es eine ordnungsgemäße Hauptverhandlung voraus, in der sich die Beschwerdeführerin gegen eventuell konstruierte Vorwürfe ohne Probleme mit rechtsstaatlichen Mitteln zur Wehr setzen könnte.

2. Im Übrigen ist die Entscheidung des Kammergerichts verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen die tatsächlichen Einschätzungen des Kammergerichts wendet, sind die Entscheidungen am Willkürmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen (vgl. BVerfGE 108, 129 (137)). Das Bundesverfassungsgericht prüft danach nur, ob die Rechtsanwendung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, die Entscheidung beruhe auf sachfremden Erwägungen (vgl. BVerfGE 80, 48 (51)).

b) Das Kammergericht legte plausibel dar, dass die Auslieferung ansonsten nicht gegen völkerrechtliche Mindeststandards und unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze verstoße (vgl. BVerfGE 59, 280 (282 ff.)). Die unabdingbaren Grundsätze der verfassungsrechtlichen Ordnung würden verletzt, wenn der Beschwerdeführerin eine unerträglich harte Strafe drohte, die unter jedem denkbaren Gesichtspunkt als unangemessen erschiene oder wenn die Strafe als solche grausam, unmenschlich oder erniedrigend wäre (vgl. BVerfGE 75, 1 (16 ff.)).

(1) Hinsichtlich der Haftbedingungen verwies das Kammergericht zu Recht auf die zuverlässigen Zusicherungen Vietnams in Bezug auf die Einhaltung der UN-Standards, den Schutz der Beschwerdeführerin vor Übergriffen der Mafia und das Besuchsrecht der deutschen Konsularbeamten. Es legte plausibel dar, dass der ergänzende Hinweis der vietnamesischen Behörden, vorher solle das Besuchsgesuch auf diplomatischem Wege mitgeteilt werden, das Besuchsrecht nicht entwerte.

(2) Hinsichtlich der drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe führte das Kammergericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise aus, dass die Strafe wegen des hohen Unrechtsgehalts der Drogendelikte nicht unverhältnismäßig sei (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. März 1994 - 2 BvR 2037/93 -, NJW 1994, S. 2884).

(3) Auch die Beurteilung des Kammergerichts zur Dauer der lebenslangen Haft steht mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen in Einklang. Diese sind gewahrt, wenn die Verurteilte jedenfalls eine praktische Chance hat, die Freiheit wieder zu erlangen (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2005 - 2 BvR 2259/04 -, DVBl 2005, S. 1260 ff.). Das Kammergericht begründete das Vorliegen einer praktischen Chance willkürfrei mit § 58 Nr. 1 des vietnamesischen Strafvollstreckungsrechts, wonach das Gericht auf Antrag der zuständigen Behörde bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach zwölf Jahren über eine Herabsetzung der Strafverbüßung entscheiden kann. Hinzu kommt, dass das Gericht nach § 59 des Gesetzes die Dauer der Strafverbüßung bei besonderen Milderungsgründen wie große Verdienste, hohes Alter und unheilbare Krankheit weiter verringern kann. Danach hat die Beschwerdeführerin eine - wenn auch gemessen an der deutschen Rechtslage möglicherweise geringere - Chance darauf, eine gegen sie verhängte lebenslange Freiheitsstrafe tatsächlich nicht bis zum Lebensende verbüßen zu müssen (vgl. Bundesverfassungsgericht, a.a.O.).