LSG Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.11.2005 - L 7 AY 4413/05 ER-B - asyl.net: M7741
https://www.asyl.net/rsdb/M7741
Leitsatz:

Roma aus dem Kosovo sind nicht grundsätzlich von Leistungen nach § 2 AsylbLG ausgeschlossen.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, freiwillige Ausreise, Serbien und Montenegro, Kosovo, Roma, Märzunruhen, Erlasslage, Abschiebungsstopp, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 1
Auszüge:

Roma aus dem Kosovo sind nicht grundsätzlich von Leistungen nach § 2 AsylbLG ausgeschlossen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht (SG) Freiburg nicht abgeholfen hat (§ 174 SGG), ist zulässig und begründet. Das SG Freiburg hat den Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt.

Eine einstweilige Anordnung ist hier erforderlich, um den Lebensunterhalt der Antragsteller sicherzustellen. Es spricht bei der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage viel dafür, dass den Antragstellern der behauptete Anspruch auf Gewährung von Leistungen der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII) zusteht, da die Voraussetzungen des dieses ausschließenden § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in der geltenden Fassung nicht gegeben sein dürften.

Die hier anzuwendende neue Fassung des Gesetzes hat erkennbar die Voraussetzungen für die Leistungseinschränkung verändert und verlangt nunmehr nicht nur eine Begrenzung der Befugnisse der Ausländerbehörde, sondern ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsbeziehers in Bezug auf die Dauer des Aufenthalts. Wegen der unterschiedlichen sprachlichen und inhaltlichen Fassungen der Norm ist die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zum früheren § 2 AsylbLG für die Auslegung des neuen Rechts nicht ohne Weiteres aussagekräftig. Hinsichtlich des geltenden § 2 Abs. 1 AsylbLG sind die Positionen in der Sozialgerichtsbarkeit bislang unterschiedlich. Hat einerseits das SG Hannover in einem Beschluss vom 25. April 2005 entschieden, dass Rechtsmissbrauch ein vorwerfbares Verhalten des Ausländers voraussetze, das über die bloße Aufenthaltsverlängerung hinausgeht (S 51 AY 42/05 ER; in diesem Sinn auch SG Hildesheim Beschluss vom 23. Mai 2005 - S 34 AY 8/05 ER), hält das SG Würzburg Rechtsmissbrauch bereits dann für gegeben, wenn jemand nicht ausreist, obwohl er zumutbar hätte ausreisen können; ein zusätzliches vorwerfbares Verhalten sei nicht notwendig (Beschluss vom 25. Mai 2005 - S 15 AY 2/05 ER). Voraussetzung ist aber in jedem Fall, dass eine zumutbare Ausreisemöglichkeit besteht (so zu Recht SG Braunschweig, Beschluss vom 25. Januar 2005 - S 20 AY 2/05 ER - InfAuslR 2005, 159).

Rechtsmissbrauch ist nur bei vorwerfbarem Tun oder Unterlassen anzunehmen. Dies entspricht der mit der Änderung verbundenen Intention des Gesetzgebers, den Ausländer zu sanktionieren, der durch die beispielhaft genannten Verhaltensweisen, wie Vernichtung des Passes oder Angabe einer falschen Identität, die Aufenthaltsdauer verlängert (vgl. BT-Ds 15/420, S. 121). Ein bloßes Nichtausreisen kann dem allenfalls dann gleichgestellt werden, wenn einer freiwilligen Ausreise keine nachvollziehbaren und/oder gewichtigen Gründe entgegenstehen (so wohl auch Hohn in NVwZ 2005, S. 388/390). Die Antragsteller können sich jedoch auf solche gewichtigen Gründe berufen. Sie sind im Besitz von auslanderrechtlichen Duldungen und werden nach den maßgeblichen Erlassen des Innenministeriums Baden-Württemberg seit Abschluss ihrer Asylverfahren und weiter bis heute nicht abgeschoben (vgl. Schreiben des Innenministeriums vom 23. Mai 2005 - 4-13-S u. M/100 -). Nach diesem Erlass ist zwar von der Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise von Roma aus dem Kosovo auszugehen, mit einer zwangsweisen Rückführung wird jedoch erst mit geringen Zahlen und nur bezüglich verurteilter Straftäter begonnen. Dies beruht auf Gesprächen einer Bund-Länderdelegation mit der zivilen Verwaltung im Kosovo (UNMIK) vom 25. und 26. April 2005. Die UN-Verwaltung hat gegenüber dieser Kommission von einer Verbesserung der Lage der Roma gesprochen, welche eine Rückführung von Straftätern zulasse. Dabei ist allerdings von 40 Personen pro Monat (aus dem gesamten Bundesgebiet) die Rede. Diese vorsichtige Politik folgt aus den Lageeinschätzungen der UNMIK und des UNHCR hinsichtlich der Angehörigen der Roma im Kosovo (vgl. zuletzt März 2005 UNHCR-Position zur fortdauernden Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo). Die in den Lageberichten zum Ausdruck kommende Unsicherheit resultiert aus den pogromartigen Ausschreitungen der albanischen Bevölkerungsmehrheit gegenüber den Roma im März 2004 (vgl. hierzu UNHCR Position vom 30. März 2004). Insofern ist die Lage dort anders und ungünstiger als noch 2000 und 2001 (vgl. dazu VG Sigmaringen Urteil vom 24. Januar 2005 - 5 K 2193/04 (juris) und VG Münster Urteil vom 8. Juni 2004 5 K 1744/01 (juris)).

Bei dieser Sachlage erscheint dem Senat das Verbleiben der Antragsteller im Bundesgebiet nicht rechtsmissbräuchlich. Rechtsmissbrauch setzt nach der oben dargestellten Auslegung des § 2 Abs. 1 AsylbLG ein vorwerfbares Verhalten voraus. Zwar kann auch ein Unterlassen vorwerfbar sein, wenn eine eindeutige und klar erkennbare Handlungspflicht besteht Eine solche kann angesichts der geschilderten Sicherheitslage im Kosovo und dem zögerlichen Verhalten der dortigen UN-Verwaltung hinsichtlich der Rückkehr gerade der Roma bezüglich deren freiwilliger Ausreise nicht angenommen werden. Die Antragsteller sind zwar ausländerrechtlich ausreisepflichtig. Sie gehen aber mit der derzeitigen UN-Verwaltung des Kosovo offensichtlich davon aus, dass eine Rückkehr von Roma in größerer Zahl Sicherheitsprobleme aufwerfen könnte. Vor diesem Hintergrund kann ihr derzeitiges Verbleiben nicht als rechtsmissbräuchlich angesehen werden.

Entgegen der Auffassung des SG liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Die Antragsteller haben nunmehr über drei Jahre nur Sachleistungen nach § 3 AsylbLG und einen geringfügigen Barbetrag erhalten. Es liegt auf der Hand, dass in dieser Zeit auch bei Anlegung sozialhilferechtlicher Maßstäbe ein Nachholbedarf entstanden ist. Es ist ihnen nicht zumutbar, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten und weiter auf ein Existenzminimum unter dem Niveau des § 1 Satz 1 SGB XII verwiesen zu werden.