OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02.12.2005 - 10 A 10610/05.OVG - asyl.net: M7750
https://www.asyl.net/rsdb/M7750
Leitsatz:

Die in Mauretanien bis heute vorkommende Sklaverei, von der allein Schwarzafrikaner betroffen sind, ist dem mauretanischen Staat als mittelbare staatliche Verfolgung zuzurechnen.

Für ihrem "Herrn" entwichene Sklaven besteht in Mauretanien keine inländische Fluchtalternative in Bezug auf eine dem mauretanischen Staat ebenso zuzurechnende Rückführung in den "Besitz" des vormaligen "Herrn".

 

Schlagwörter: Mauretanien, Sklaverei, interne Fluchtalternative, mittelbare Verfolgung, Glaubwürdigkeit
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die in Mauretanien bis heute vorkommende Sklaverei, von der allein Schwarzafrikaner betroffen sind, ist dem mauretanischen Staat als mittelbare staatliche Verfolgung zuzurechnen.

Für ihrem "Herrn" entwichene Sklaven besteht in Mauretanien keine inländische Fluchtalternative in Bezug auf eine dem mauretanischen Staat ebenso zuzurechnende Rückführung in den "Besitz" des vormaligen "Herrn".

(Amtliche Leitsätze)

 

Hiernach steht dem - nicht aus einem Drittstaat im vorbezeichneten Sinn, sondern auf dem Seeweg eingereisten - Kläger ein Anspruch auf Asyl zu. Da der Kläger in Mauretanien bereits - mittelbare - staatliche Verfolgung erlitten hat, ist dabei für die Zukunftsprognose vom herabgeminderten Maßstab auszugehen und zu fragen, ob eine - solche - erneute politische Verfolgung des Klägers bei Rückkehr nach Mauretanien mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Das ist zu verneinen.

Der Senat hält die Angaben des Klägers zu seinem vormaligen Leben in Mauretanien und der Flucht von dort in wesentlicher Hinsicht für glaubhaft und geht daher davon aus, dass der Kläger, nachdem er zuvor mehrere Jahre als Waisenkind in Flüchtlingslagern im Senegal - Sodec bei Al Demba und Bodor - bzw. im Haus einer Adoptivmutter in Al Demba verbracht hatte, alsbald nach seiner Rückkehr nach Mauretanien im Jahre 1992 der Sklaverei anheimfiel und so zunächst einige Jahre bei einer ihm namentlich nicht bekannten in einer anderen Stadt als Boghe lebenden Familie und sodann bis Ende 2001/Anfang 2002 - als er nach mehreren Versuchen von dort entkommen konnte - bei der Familie C.T. in Boghe als Sklave auf der Farm arbeiten musste.

So ist zunächst zu sehen, dass die Schilderung des Klägers sich in die gesellschaftlichen Verhältnisse in Mauretanien im Allgemeinen sowie die innenpolitische Entwicklung daselbst gegen Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts im Besonderen einfügt.

Zu ersterem ist hervorzuheben, dass es in Mauretanien in der Tat bis in die heutige Zeit hinein - durchaus noch verbreitet - Sklaverei gibt - von der allein die schwarzafrikanische Bevölkerung betroffen ist -, ungeachtet ihrer offiziellen Abschaffung durch Gesetz vom 9. November 1981. Dies bestätigen alle vom Verwaltungsgericht eingeholten Auskünfte (vgl. hierzu des Weiteren z. B. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 10. Februar 1994). Wenn es in der Auskunft des Instituts für Afrikakunde vom 18. November 2003 heißt, der Sklavenstand werde "heute nur noch vererbt", es gebe "keine Neuversklavung mehr" - allerdings komme es noch zu "kaschierten" Besitzerwechseln -, stellt dies die Glaubwürdigkeit des Klägers, der ja im Jahre 1992 erstmals versklavt worden sein will, nicht in Frage. Zu sehen ist insofern zum einen, dass die Auskunft die Verhältnisse im Jahre 2003 betrifft. Zum anderen sind die besonderen Umstände zu berücksichtigen, die eine Neuversklavung des Klägers seinerzeit begünstigten. So war der Kläger im Jahre 1992 erst 7 Jahre alt und Vollwaise; er wurde zudem aus einem Flüchtlingslager im Senegal, wo er sich bis dahin offenbar ohne irgendwelche verwandtschaftlichen Kontakte aufgehalten hatte, "übernommen" und von einer fremden Person - einem "Anwerber" - nach Mauretanien zurückgeführt. Ergänzend sei im hier behandelten Zusammenhang klargestellt, dass es sich bei den "Beschäftigungsverhältnissen" des Klägers in der Zeit von 1992 bis Ende 2001/Anfang 2002, so wie er sie näher geschildert hat, tatsächlich um Sklaventum gehandelt hat: So wurde er verkauft bzw. weiterverkauft, war er gezwungen, ohne Entlohnung zu arbeiten, und körperlicher Züchtigung ausgesetzt und konnte er sich dem Zugriff der Herrschaft nur durch eine Flucht entziehen.

Auch die Darstellung seiner Lebensumstände bis zum Jahre 1992 fügt sich in die objektiven Gegebenheiten zur damaligen Zeit in Mauretanien ein; dabei ist sehr wohl auch zu bedenken, dass zum Teil Ereignisse in Rede stehen, die bis in die früheste Kindheit des Klägers zurückreichen, so dass insofern an die Schilderung des Vorfluchtschicksals ohnehin nicht dieselben Anforderungen gestellt werden können wie sonst gemeinhin. Was die innenpolitischen Verhältnisse im Heimatland des Klägers gegen Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts angeht, ist so festzustellen, dass es seinerzeit zunehmend zu Spannungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen Mauretaniens gekommen war, die schließlich zu "ethnischen Säuberungen" führten, in deren Verlauf namentlich auch im Senegalflusstal viele schwarzafrikanische Mauretanier von den Mauren getötet oder in den Senegal vertrieben wurden oder sich selbst dort vor den Ausschreitungen in Sicherheit brachten; zu ihrer Aufnahme wurden im Senegal auch Flüchtlingslager errichtet. Ein Großteil der Geflohenen kehrte später, nachdem sich die Lage ab etwa 1992 zu entspannen begann, auf freiwilliger Basis oder aufgrund von Repatrisierungsprogrammen nach und nach nach Mauretanien zurück.

Ist dem Kläger nach alledem abzunehmen, dass er von 1992 bis zu seiner Flucht von der Farm seines letzten "Herrn" Sklave war, ist er bereits von politischer Verfolgung betroffen gewesen. Dass die mit einer Versklavung einhergehende substantielle Minderung der Existenz als Mensch - die völlige Abhängigkeit der Sklaven von ihrem "Herrn", ihre "Verdinglichung" und Ausbeutung, ihre Schutzlosigkeit gegenüber Bestrafungsaktionen und willkürlichen Entscheidungen ihres "Herrn" - die für die Asylerheblichkeit geforderte Schwere des Eingriffs erreicht, bedarf keiner weiteren Vertiefung. Die Repressalien knüpfen jedenfalls im Heimatstaat des Klägers auch an ein unveräußerliches Merkmal - die Rasse - an, da in Mauretanien ausschließlich Schwarzafrikaner von Sklaverei betroffen sind (vgl. die vom Verwaltungsgericht eingeholten Auskünfte des Instituts für Afrikakunde vom 18. November 2003 sowie dessen Auskunft gegenüber dem Verwaltungsgericht Stuttgart vom 16. Dezember 1996).

Die somit für die Zeit seines Sklaventums festzustellende politische Verfolgung des Klägers war schließlich auch ungeachtet des Umstandes, dass sie - unmittelbar - nur von Privatpersonen, seinen "Herren", ausging, staatliche Verfolgung: Sie war dem mauretanischen Staat zuzurechnen, da dieser nicht dazu bereit oder in der Lage war, mit den ihm an sich hierzu zur Verfügung stehenden Mitteln dem Kläger ihr gegenüber Schutz zu gewähren. Das ergibt sich zweifelsfrei aus den vom Verwaltungsgericht eingeholten Auskünften des Instituts für Afrikakunde, der Gesellschaft für bedrohte Völker und von amnesty international sowie des Weiteren z. B. aus der oben bereits angeführten Auskunft des Instituts für Afrikakunde vom 16. Dezember 1996.