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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 22.06.2005 - 5 LB 51/02 - asyl.net: M7751
https://www.asyl.net/rsdb/M7751
Leitsatz:

Keine Verletzung des "religiösen Existenzminimums" iranischer Staatsangehöriger bei Konversion zum Christentum; keine Anwendung der Qualifikationsrichtlinie vor ihrer Umsetzung oder Ablauf der Umsetzungsfrist.

 

Schlagwörter: Iran, Antragstellung als Asylgrund, Situation bei Rückkehr, exilpolitische Betätigung, OIVPK, Organisationshauptverein der iranischen Vereine für Politik und Kultur, IVPK, Iranischer Verein für Politik und Kultur, Christen, Konversion, Apostasie, Scharia, religiöses Existenzminimum, religiös motivierte Verfolgung, Anerkennungsrichtlinie, Missionierung, Zeugen, Hörensagen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1
Auszüge:

Keine Verletzung des "religiösen Existenzminimums" iranischer Staatsangehöriger bei Konversion zum Christentum; keine Anwendung der Qualifikationsrichtlinie vor ihrer Umsetzung oder Ablauf der Umsetzungsfrist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts erfüllt der Kläger nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2000 (BGBl. I S. 1950), geändert durch Gesetz vom 14. März 2005 (BGBl. I S. 721) - AufenthG - (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) für die Gewährung von Abschiebungsschutz. Bei einer Rückkehr in den Iran droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift.

Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland allein rechtfertigt nicht die Annahme, der Antragsteller werde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus diesem Grunde bei Rückkehr in den Iran einer politischen Verfolgung ausgesetzt sein.

Allerdings ergibt sich aus den Erkenntnisquellen und der auf deren Grundlage bisher ergangenen Rechtsprechung, dass auch gegenwärtig die von dem erkennenden Senat in seinem Urteil vom 9. November 1993 (- 5 L 873/92 -) festgestellte Gefahr besteht, dass die erwähnten Nachforschungen bei der Einreise zu einer politischen Verfolgung führen können, wenn zu erwarten ist, dass diese Nachforschungen zu einer Einstufung des Einreisenden als politischer Gegner des iranischen Staates führen. Ob dies der Fall ist, ist angesichts der nicht rechtsstaatlich geregelten Verfahren schwer einzuschätzen, kann aber nur angenommen werden, wenn die Umstände des Einzelfalles Anhaltspunkte für eine solche Einschätzung ergeben (vgl. OVG Lüneburg, Urteile v. 09.11.1993 - 5 L 873/92 -, v. 21.09.2000 - 5 L 3136/99 -; OVG Hamburg, Urt. v. 11.05.1995 - OVG Bf V 24/94 -; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 26.05.1997 - A 12 S 1467/95 -).

Auch die von dem Kläger geltend gemachte exilpolitische Tätigkeit rechtfertigt nicht die Annahme, ihm drohten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei der Rückkehr in den Iran politische Verfolgung.

Die Annahme einer solchen zur politischen Verfolgung führenden Einstufung als politischer Gegner des iranischen Staates ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats nur gerechtfertigt, wenn die exilpolitische Tätigkeit den Staatssicherheitsbehörden des iranischen Staates bekannt geworden und anzunehmen ist, dass diese Behörden die Aktivitäten als erhebliche, den Bestand des Staates gefährdende oppositionelle Aktivitäten bewerten (vgl. OVG Lüneburg, Urteile v. 09.03.1993, 23.09.1993 - 5 L 2541 u. 2572/91 -).

Nicht beachtlich wahrscheinlich ist zudem, dass der Besuch des Klägers von Veranstaltungen des Organisationshauptvereins der iranischen Vereine für Politik und Kultur (OIVPK) sowie die Teilnahme an von diesem Verein veranstalteten Demonstrationen von den iranischen Sicherheitsbehörden als staatsgefährdende oppositionelle Tätigkeit bewertet werden.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz schätzt die Bedeutung des OIVPK und seiner Nebenvereine innerhalb des oppositionellen iranischen Spektrums jedoch als gering ein und geht davon aus, dass Existenz und Aktivitäten dieser Vereine keine Gefahr für den iranischen Staat darstellen und die offiziellen iranischen Stellen dies gleichfalls so einschätzen. Demgemäß hätten Aktivisten dieser Gruppierung nach dortigen Erkenntnissen bisher auch keine Nachstellungen iranischer Behörden geltend gemacht.

Auch der Eintritt des Klägers in die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde O. rechtfertigt unter Berücksichtigung der übrigen Umstände des Einzelfalles nicht die Annahme, dass dem Kläger bei Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.

Auf Grund des Eintritts in eine christliche Kirche in der Bundesrepublik Deutschland droht politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nur, wenn dies staatlichen, halbstaatlichen oder anderen Institutionen, denen gegenüber der Staat Schutz nicht gewährt, bekannt wird und von diesen als Bedrohung für den islamischen Staat bewertet wird. Ob eine solche Bewertung anzunehmen ist, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu beurteilen und in der Regel zu verneinen, wenn es sich um eine einfache Mitgliedschaft handelt, die weder mit missionarischer Tätigkeit noch mit Leitungsaufgaben oder anderen hervorgehobenen Funktionen verbunden ist (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 28.10.1999 - 5 L 3180/99 -; Urt. v. 27.03.2001 - 5 L 463/00 -, gegen welches das Bundesverwaltungsgerichts durch Beschluss vom 06.03.2002 - 1 B 254/01 - die Revision zugelassen hatte, die indessen wenige Tage vor dem anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung vom Kläger zurückgenommen wurde, nachdem der Beteiligte ihn klaglos gestellt hatte).

Auch unter Berücksichtigung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Januar 2004 (- 1 C 9.03 -, BVerwGE 120, 16 = DVBl. 2004, 902) zum asylrechtlich geschützten religiösen Existenzminimum ist eine andere Entscheidung nicht gerechtfertigt. In diesem Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht unter anderem ausgeführt: Nur dann befinde sich der Einzelne in seinem Heimatland in einer aussichtslosen Lage, um derentwillen ihm das Asylrecht Schutz im Ausland verheiße, wenn das nach internationalem Standard gebotene religiöse Existenzminimum nicht gewährleistet sei. Dieser unverzichtbare und unentziehbare Kern der Privatsphäre des glaubenden Menschen umfasse die religiöse Überzeugung als solche und die Religionsausübung abseits der Öffentlichkeit und in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf. Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit einschließlich der Missionierung gehörten nicht zum religiösen Existenzminimum. Insbesondere wenn ein Staat seine Existenz auf eine bestimmte Religion gründe - wie dies im Iran der Fall sei -, seien Maßnahmen, die er zur näheren Definition und Abgrenzung der Zugehörigkeit zu dieser Staatsreligion sowie zu deren Schutz ergreife, ungeachtet ihres Eingriffs in die Religionsfreiheit solange nicht als Verfolgung anzusehen, als sie das von der Menschenwürde gebotene religiöse Existenzminimum belassen. Ein Eingriff in das religiöse Existenzminimum komme grundsätzlich erst dann in Betracht, wenn die zum Christentum konvertierten Muslime im Iran auch dann mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen müssten, wenn sie sich zum gemeinsamen Gebet und zu Gottesdiensten mit Gleichgesinnten abseits der Öffentlichkeit zusammenfinden.

Ein hierüber hinausgehender weitergehender Schutzanspruch des Einzelnen kann nicht aus Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. der EU 2004 L Nr. 304, S. 12) hergeleitet werden. Nach dieser Regelung haben die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung der Verfolgungsgründe zu berücksichtigen, dass der Begriff der Religion auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich und sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen umfasst. Aus dieser allein die Mitgliedsstaaten verpflichtenden Richtlinie (Art. 249 Abs. 3 EGV) kann der Einzelne Rechte aber nur herleiten, wenn der Mitgliedsstaat seines Aufenthaltes durch entsprechende nationale Rechtsvorschriften diese Richtlinie umgesetzt oder sie nicht fristgerecht oder unzulänglich umgesetzt hat (vgl.: Sächs. OVG, Urt. v. 4.5.2005 - A 2 B 524/04 -; Bay. VGH, Beschl. v. 7.4.2005 - M 9 K 00.51775 -; VGH Bad.- Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 -, VBlBW 2005, 303; a.A. Meyer/Schallenberger, Die EU-Flüchtlingsrichtlinie: Das Ende für das Forum Internum und Abschied von der Zurechnungstheorie?, NVwZ 2005, 776).

Diese beiden Voraussetzungen liegen hier nicht vor, weil entsprechende nationale Vorschriften in Deutschland noch nicht erlassen sind und die Umsetzungsfrist der genannten Richtlinie erst am 10. Oktober 2006 abläuft (Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie).

In Auswertung dieser Auskünfte ist das Sächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 4. Mai 2005 - A 2 B 524/04 - zu dem Ergebnis gelangt, dass das religiöse Existenzminimum eines in Deutschland vom muslimischen zum christlichen Glauben übergetretenen iranischen Staatsangehörigen im Falle der Rückkehr in den Iran auch dann gewahrt ist, wenn der Apostat dort seinen neuen christlichen Glauben ausüben und nicht verleugnen will. Dieser Auffassung, die auch vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 7. April 2005 - 14 B 02.30878 - geteilt wird, schließt sich der erkennende Senat auch für den hier zu beurteilenden Fall, der insoweit keine Besonderheiten aufweist, an.