VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 03.08.2005 - 7 A 4142/03 - asyl.net: M7758
https://www.asyl.net/rsdb/M7758
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für afghanische Staatsangehörige wegen Hinwendung zum Christentum und nichtehelicher Lebensgemeinschaft mit einem christlichen Mann.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Christen, Konversion, Apostasie, religiös motivierte Verfolgung, Flüchtlingsfrauen, nichtstaatliche Verfolgung, Ehrenmord, Scharia, Mischehen, nichteheliche Lebensgemeinschaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für afghanische Staatsangehörige wegen Hinwendung zum Christentum und nichtehelicher Lebensgemeinschaft mit einem christlichen Mann.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben einen Anspruch darauf, dass die Beklagte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG feststellt.

Die Kläger haben wegen ihrer Hinwendung zur christlichen Kirche und die Klägerin zu 1. darüber hinaus wegen ihres Zusammenlebens mit einem Christen einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Der Einzelrichter h keinen Zweifel, dass die Klägerin zu 1. sich dem christlichen Glauben zugewandt hat. Die Klägerin zu 1. hat glaubhaft versichert, dass ihre Hinwendung zum Christentum bei den in ... und Umgebung wohnenden Afghanen bekannt geworden ist. Es ist auch ferner nicht von der Hand zu weisen, dass dieses über die Vorgenannten im Verwandtenkreis der Klägerin zu 1. bzw. in deren früheren Umfeld bekannt geworden ist. Deswegen würde sich nach Auffassung des Einzelrichters bei Rückkehr der Klägerin zu 1. nach Afghanistan für sie eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben ergeben. So heißt es in dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21. Juni 2005 (dort Seite 20/21), dass u. a. der Fall eines Kommandanten bekannt geworden sei, der sich, wie auch seine Frau, offen zum Christentum bekannt hat. Jener sei von der eigenen Familie und Vertretern der konservativen Geistlichkeit Anfang 2003 offen bedroht worden. Die Situation von Konvertiten hänge letztlich davon ab, wo und unter welchen Umständen diese in Afghanistan lebten. Repressionen gegen Konvertiten seien in städtischen Gebieten wegen der größeren Anonymität weniger zu befürchten, als in Dorfgemeinschaften. Eine ungehinderte offene Ausübung ihrer Religion sei für Konvertiten in Afghanistan jedoch kaum möglich. Übersehen wird in diesem Zusammenhang nicht, dass die Klägerin noch nicht offiziell zum christlichen Glauben übergetreten und damit eine Konvertitin ist. Entscheidend ist nach Ansicht des Einzelrichters wie die Klägerin zu 1. in Bezug auf den christlichen Glauben nach außen hin auftritt und wie dieses von ihren Landsleuten aufgefasst und bewertet wird. Entscheidend für die Frage der Gefährdung ist, dass die Klägerin sich dem Christentum zugewandt hat. Nach der Einschätzung des Dr. Danesch in seiner Stellungnahme vom 13. Mai 2004 an das VG Braunschweig gibt es in ganz Afghanistan keinerlei Landesteile und Städte, in denen eine Person, die vom Islam zum Christentum übergetreten ist, unbehelligt ihren Glauben ausüben könnte. Hinzu kommt, dass der Abfall vom Islam bei einer Frau noch weit stärker als Rebellion gegen sämtliche Werte der Gesellschaft empfunden würde als bei einem Mann (Seite 3). Personen, die zum Christentum übergetreten sind, müssen mit Sanktionen sowohl von privater als auch von staatlicher Stelle rechnen. Denn der traditionell-islamischen Gesellschaft räumt man der Familie weitgehende Sanktionsmöglichkeiten gegen Mitglieder ein, die "Schande" über sie gebracht haben. Dazu gehören harte Bestrafungen, Verstoßung - was für eine Frau praktisch ein Todesurteil bedeutet - und sogar die Tötung. In Afghanistan sind die Fälle Legion, in denen Frauen, die auf die eine oder andere Weise ihre Familie "entehrt" hatten, umgebracht worden sind, ohne dass dies von der Justiz geahndet worden wäre. Auch Übergriffe von staatlicher Stelle gegen Konvertiten sind denkbar. In Kabul und im ganzen Land wird heute praktisch wieder nach der Sharia geurteilt, nach der "Abtrünnige vom Islam" streng bestraft werden. Die Verhältnisse in den Provinzen sind nicht anders. Dabei ist es für den europäischen Beobachter wichtig zu verstehen, dass in einem Gemeinwesen, dessen Grundlage die Religion ist, "Ungläubig"“ und "Abtrünnige vom Islam" nicht nur ein religiöses Verbrechen, sondern Staatsverrat begehen. Danach müsste eine Person, die zum Christentum übergetreten ist, im ganzen Land auch mit Übergriffen durch den Staat und die Justiz rechnen (Seite 5). Der Abfall vom Islam ist das denkbar schwerste religiöse Verbrechen, dass in der Regel mit dem Tod geahndet wird. Das gilt nach der in Afghanistan traditionell herrschenden Auffassung erst Recht, wenn es durch eine Frau begangen wird, die damit zugleich gegen die Autorität ihrer männlichen Verwandten aufbegehrt (Seite2). Hinzu kommt bei der Klägerin zu 1., dass sie mit einem Christen zusammen lebt. In der Stellungnahme von Danesch bringt eine Frau, die einen Nicht-Muslim zum Mann nimmt, Schande über sich und ihre Familie (Seite 2). Zwar ist die Klägerin zu 1. mit ihrem Lebenspartner nicht verheiratet, lebt aber mit ihm zusammen. Auch dieses wird mit Sicherheit als Schande empfunden. Abschließend heißt es hierzu, die Aussicht ist sehr groß, dass "potentielle Verfolger" von dem Glaubenswechsel erfahren, selbst wenn der Konvertit diesen nicht explizit offenbart.