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OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.03.2005 - 1 LB 45/03 - asyl.net: M7761
https://www.asyl.net/rsdb/M7761
Leitsatz:
Schlagwörter: Georgien, Osseten, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Blutrache, Gruppenverfolgung, Südossetien, mittelbare Verfolgung, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, Depression, posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

1. Die persönlichen Bedrängnisse, die der Kläger zu 2) und die Klägerinnen zu 1) und zu 3) vor ihrer Ausreise aus Georgien erlitten haben, sind nicht als Vorverfolgung i. S. d. § 60 Abs. 1 AufenthG anzuerkennen.

Zur Begründung seiner Verfolgungsfurcht hat er sich - bisher - durchweg auf seine Befürchtung bezogen, Nachstellungen des Bruders eines ums Leben gekommenen ossetischen Kämpfers ausgesetzt zu sein. Diesen Nachstellungen sei er mangels wirksamen Schutzes durch die georgische Polizei - auch wegen seines Familiennamens - ausgeliefert.

Eine ("ausweglose") Verfolgungssituation ergibt sich daraus nicht. Ossetischen Volkszugehörigen werden in Georgien die gleichen staatlichen Schutzmaßnahmen zuteil wie anderen georgischen Staatsangehörigen auch. Es liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass Polizeiorgane zum Schutz von ossetischen Volkszugehörigen in Georgien im Zeitraum Juli/August 1995 (vor Ausreise des Klägers zu 2)) bzw. gegenwärtig nicht eingreifen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Senat v. 15.08.2003). Damit ging bzw. geht von den (unterstellten) Nachstellungen des Bruders eines ums Leben gekommenen Osseten keine dem georgischen Staat zurechenbare Gefährdung des Klägers zu 2) aus.

Die gegen die Klägerin zu 3) gerichteten Übergriffe - ihre Entführung 1991 bzw. die Beleidigungen und Schikanen während der Schulzeit - sind rechtswidrigen Handlungen Einzelner zuzuschreiben; eine direkte oder - wegen unzureichender Schutzgewährung - indirekte Verantwortlichkeit des georgischen Staates dafür ist nicht festzustellen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Senat vom 15.08.2003).

Anhaltspunkte dafür, dass ossetische Volkszugehörige in Georgien einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sind, sind, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat (S. 8 des Urteils), nicht gegeben. Die dazu beigezogenen Erkenntnisquellen, insbesondere der (jüngste) Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. April 2004, ergeben keinerlei Ansatzpunkte für die Annahme einer gruppenbezogenen Verfolgung ossetischer Volkszugehöriger in Georgien. Dort leben insgesamt ca. 160 000 Osseten, 64 000 davon im Gebiet Südossetien. Die ab Herbst 1989 bekannt gewordenen (gewalttätigen) Konflikte zwischen Osseten und Georgiern, die (insbesondere) Anfang 1991 eskalierten und erst Mitte 1992 (durch russische Intervention) beendet wurden, sind zum Erliegen gekommen. In Südossetien ist eine russisch-/ossetisch-/georgische Friedenstruppe unter gemeinsamem russischen Kommando im Einsatz. Die OSCE versucht zu vermitteln (vgl. dazu ausführlich: Bischof, Georgienstudie, 1995).

3. Die gesundheitliche Verfassung der Klägerin zu 1) begründet ebenfalls kein Abschiebungshindernis gem. § 60 Abs. 7 AufenthG (bisher: § 53 Abs. 6 AuslG).

In diagnostischer Hinsicht kann danach eine mittelgradige depressive Episode als gesichert angesehen werden.

In rechtlicher Hinsicht folgt dies daraus, dass Gefahren nach dieser Vorschrift nur schutzbegründend sind, wenn ihr Eintritt beachtlich, d. h. überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 15.12.2003, 3 LB 11/02, juris [Tz. 31]; OVG Münster, Beschl. v. 20.12.2004, 13 A 1250/04.A, juris, m. w. N.). Dabei ist eine einzelfallbezogene Betrachtung vorzunehmen, die sowohl die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos als auch den Rang des gefährdeten Rechtsguts berücksichtigt. Im Falle einer (durch eine Erkrankung bedingten) Leibes- und Lebensgefahr muss geprüft werden, mit welchem Gewissheitsgrad damit zu rechnen ist, dass sich der Gesundheitszustand des Betroffenen - auch im Hinblick auf medizinische Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat der Abschiebung - in einem angemessenen Prognosezeitraum wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde (BVerwG, Urt. v. 25.11.1997, 9 C 58.96, BVerwGE 115, 338 ff.; Beschl. des Senats vom 29.12.2004, 1 LA 129/04, n. v.).

Die "beachtliche Wahrscheinlichkeit" einer existenziellen (zielstaatsbezogenen) Gefahr erfordert mehr, als dass eine solche - erhebliche - Verschlechterung (nur) im Bereich des Möglichen liegt; diese muss im Einzelfall zu erwarten sein. Das ist anzunehmen, wenn die dafür sprechenden Umstände größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen und deshalb ihnen gegenüber überwiegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.03.1990, 2 BvR 938/89 u. a., InfAuslR 1990, 165).

Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands ist nicht schon aus fehlenden oder unzureichenden Heilungsmöglichkeiten oder aus der Befürchtung einer ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustands im Herkunftsland des Betroffenen abzuleiten. Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG (bisher: § 53 Abs. 6 AuslG) soll dem Ausländer nicht eine Heilung seiner Krankheit unter Einsatz des sozialen Netzes der Bundesrepublik Deutschland sichern, sondern vor einer gravierenden Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter Leib und Leben bewahren (so OVG Münster, Beschl. v. 30.12.2004, a.a.O.). Schutz kann erst beansprucht werden, wenn "sehenden Auges" mit dem Eintritt außergewöhnlich schwerer (irreversibler) gesundheitlicher Schäden oder Gefahren gerechnet werden muss (vgl. OVG A-Stadt, Beschl. v. 02.04.2003, 3 Bs 439/02, NordÖR 2003, 414 ff.). Dazu kann auch eine infolge krankheitsbedingten Verlustes der Selbststeuerungsfähigkeit entstehende Suizidgefahr gehören. Eine solche Gefahr muss - ebenso wie die Gefahr einer anderen wesentlichen und schweren Verschlechterung einer Erkrankung - auch unter Berücksichtigung der "stabilisierenden" Umstände, des zeitlichen Abstandes, des familiären und sozialen Umfeldes und der (möglicherweise begrenzten) Therapiemöglichkeiten im Heimatland des Betroffenen beurteilt werden. In medizinischer und therapeutischer Hinsicht muss sich ein Betroffener grundsätzlich auf den allgemein üblichen Standard seines Heimatlandes verweisen lassen (Beschluss des Senats vom 29.12.2004, a.a.O.). Der - befürchtete - Eintritt einer existenziellen Gefahr muss "alsbald" nach Rückkehr des Betroffenen in seinem Herkunftsland - anknüpfend an die dortigen Gegebenheiten - zu erwarten sein (BVerwG, Urt. v. 25.11.1996, a.a.O.).

Das Gericht geht auch davon aus, dass die psychische Erkrankung der Klägerin zu 1) in Georgien zumindest in dem Umfang therapierbar ist, dass existenziellen Gefahren entgegengewirkt werden kann. Dabei ist - generell - zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu 1) in Georgien in ihrer Muttersprache therapiert werden könnte, so dass Einschränkungen, die durch Verständigungsschwierigkeiten entstehen und die auch durch einen Sprachmittler nicht völlig abzubauen sind, entfallen werden. Weiter folgt das Gericht der Beurteilung der Sachverständigen in der Einschätzung, dass die Klägerin zu 1) bisher - auch infolge der bisherigen Flüchtlingsberatung - in der "Perspektive einer Integration in Deutschland gelebt hat und eine andere Perspektive nicht hat aufbauen können" (s. Protokoll v. 24.03.2005, S. 4). Daraus folgt, dass jedenfalls diejenigen Ängste und Stressfaktoren, die sich (aktuell) aus einer mangelnden Rückkehrperspektive ableiten, durch gezielte Hilfen bis zur tatsächlichen Rückkehr (Rückführung) Georgien abgebaut werden können.

Soweit danach ein Behandlungsbedarf besteht, gilt Folgendes: In Georgien bestehen medizinische Behandlungsmöglichkeiten; für psychiatrische Erkrankungen sind diese in schweren Fällen kostenlos (Auskunft der Botschaft Tiflis v. 10.05.2001 an BAFl., Lagebericht, a.a.O.). Auch wenn im Falle der Klägerin zu 1) kein "schwerer" Fall angenommen wird, ist wegen der ambulanten bzw. medikamentösen Hilfemöglichkeiten (vgl. Auskunft ZRS vom 12.01.2005) eine - i. S. d. obigen Maßstäbe - "wesentliche" Verschlimmerung ihrer Erkrankung nicht als beachtlich wahrscheinlich anzusehen.