VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 09.11.2005 - A 10 12302/03 - asyl.net: M7763
https://www.asyl.net/rsdb/M7763
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, religiös motivierte Verfolgung, Gruppenverfolgung, Genfer Flüchtlingskonvention, Flüchtlingsbegriff, Abschiebungshindernis, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, IMK-Beschluss, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Verminung, Sicherheitslage, Versorgungslage, Situation bei Rückkehr, auflösende Bedingung, Existenzminimum
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Wegen Gefahren in Afghanistan, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Kläger angehört, allgemein ausgesetzt ist, kann grundsätzlich Abschiebungsschutz unmittelbar nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht gewährt werden, da insoweit die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG entgegensteht. Danach können die Auswirkungen solcher allgemeiner Gefahren auf den einzelnen Ausländer nur aufgrund einer Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60 a Abs. 1 S. 1 AufenthG - die in Baden-Württemberg derzeit nicht vorliegt - zur Aussetzung der Abschiebung führen.

Eine Überwindung dieser Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG kommt aber auf der Grundlage einer verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG (vgl. hierzu grundsätzlich BVerwG, Urt. v. 12.07.2001, BVerwGE 114, 379 zu § 53 Abs. 6 AuslG) in Betracht.

Die danach maßgeblichen Voraussetzungen für die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG aufgrund einer allgemeinen Gefahrenlage liegen hier vor. Denn die Gewährung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG scheitert für den Kläger nach dem obigen Maßstab nicht schon daran, dass ihm gleichwertiger Abschiebungsschutz aufgrund der derzeitigen Erlasslage gewährt wird (unten 1.) und auch eine extreme Gefahrenlage liegt für ihn vor (unten 2.).

1. Da sich die Frage nach der Gleichwertigkeit auf den Abschiebungsschutz bezieht und beschränkt, ist es freilich rechtlich unerheblich, wenn eine Erlasslage auch von der Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr der Betroffenen in ihren Heimatstaat ausgeht und deshalb die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für Betroffene ausschließt. Folgt aus dem Nachrang der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG deren Nichtanwendung dann, wenn der Ausländer bereits eine den vergleichbar wirksamen Abschiebungsschutz vermittelnde Duldung besitzt oder diese ihm aufgrund der ausländerrechtlichen Erlasslage gewährt wird oder gewährt werden muss, so kommt es nicht darauf an, ob der Schutz auf rechtlichen - insbesondere inlandsbezogenen - Abschiebungshindernissen, die auch die Zumutbarkeit der freiwilligen Rückkehr ausschließen, oder lediglich auf faktischen Abschiebungshindernissen beruht. Denn auch der auf § 60 a AufenthG beruhende Abschiebungsschutz umfasst keine Feststellung zur Zumutbarkeit einer freiwilligen Rückkehr, da er nach politischem Ermessen gewährt wird. Abschiebungsschutz in diesem Sinne kann auch dann gewährt werden, wenn dieser weder einfachgesetzlich noch verfassungsrechtlich zwingend geboten ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.09.2004 - A 2 S 471/02 -, juris, zum Irak).

Aufgrund des derzeit vorliegenden Erlasses des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 15.04.2005, geändert am 01.08.2005 - 4-13-AFG/8 -, der auf den Beschlüssen der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 19.11.2004 und vom 23./24.06.2005 beruht, werden afghanischen Staatsangehörigen auch Duldungen erteilt bzw. verlängert. Anders als nach der vorherigen Erlasslage sind (für den mit Vorrang zurückzuführenden Personenkreis) diese Duldungen aber mit der "Auflage" zu versehen, dass sie erlöschen, sobald der Ausländer mit Beginn der Zwangsmaßnahme über die Abschiebung in Kenntnis gesetzt wird, bzw. sie sollen grundsätzlich (sonstiger Personenkreis) mit dieser "auflösenden Bedingung" erteilt werden (s. III. des Erlasses). Dem liegt zugrunde, dass sich die Innenministerkonferenz einig war, dass nunmehr die Voraussetzungen für den Beginn der Rückführung nach Afghanistan gegeben seien. Wer nicht unter eine - zusätzlich beschlossene - besondere Bleiberechtsregelung (dazu unten) falle, müsse ausreisen, sei es freiwillig oder im Wege der Abschiebung (vgl. den Bericht "Konferenz der Innenminister und -senatoren Juni 2005 in Stuttgart" unter www.im.baden-wuerttemberg.de). Dementsprechend geht der Erlass davon aus, dass grundsätzlich alle afghanischen Staatsangehörigen zwangsweise rückgeführt werden können. Es wird lediglich für einen bestimmten Personenkreis (I. 1. und 2. des Erlasses) ein Vorrang der Rückführung aufgestellt, der aber nichts daran ändert, dass auch die übrigen afghanischen Staatsangehörigen der Rückführungsmöglichkeit unterliegen, was lediglich unter dem Vorbehalt vorheriger Abstimmung mit dem Innenministerium steht. Nach dieser Regelung obliegt es folglich allein der von objektiven Umständen, insbesondere in Afghanistan, unabhängigen Entschließung der mit der Rückführung betrauten Behörden, wann die erteilten Duldungen enden. Das kann jederzeit der Fall sein. Anders als nach der vorherigen Erlasslage (dazu noch Einzelrichterurteil der Kammer v. 01.04.2005 - A 10 K 11994/03 -, beruhend auf Kammerurteil v. 18.05.2004 - A 10 K 11551/03 -) fehlt es damit an der Gleichwertigkeit des gegenwärtigen Abschiebungsschutzes mit einem solchen nach § 60 a AufenthG, der eine gewisse Beständigkeit der Aussetzung der Abschiebung in Abhängigkeit von einer Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse oder doch jedenfalls der politischen Entschließung beinhaltet.

Unerheblich ist es, dass für einen bestimmten Personenkreis ein Bleiberecht eingeführt wurde (vgl. Anordnung des Innenministeriums Baden-Württemberg nach § 23 AufenthG für afghanische Staatsangehörige v. 01.08.2005 - 4-13-AFG/13 -). Derartige Bleiberechtsregelungen haben - sofern nicht im Einzelfall zugunsten des Betroffenen bereits von ihnen Gebrauch gemacht wurde, was beim Kläger schon deshalb nicht der Fall sein kann, weil sein Asylverfahren noch anhängig ist (vgl. IV. der Anordnung) - bei der Beurteilung des gleichwertigen Abschiebungsschutzes außer Betracht zu bleiben (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.07.2001, a.a.O.). Denn das würde die Entscheidung des Gerichts mit den verbleibenden Unwägbarkeiten einer Inzidentprüfung über die voraussichtliche Entscheidung der Ausländerbehörde belasten, ohne Bindungswirkung zu entfalten.

Mithin oblag es der Kammer, die zweite Voraussetzung der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG zu prüfen.

2. Eine extreme Gefahrenlage ist für den Kläger gegeben.

Das ergibt sich allerdings noch nicht aus der Gefährdung durch Minen.

Gleiches gilt für die Prognose, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit Rückkehrer Opfer der unzureichenden und noch immer instabilen Sicherheitslage werden können.

Etwas anderes gilt aber unter Berücksichtigung der individuellen Lage des Klägers für die im Vordergrund der Befürchtungen der meisten Rückkehrer und auch Beobachter stehende Versorgungslage, die in jüngerer Zeit schon Anlass für verschiedene Verwaltungsgerichte war, betroffenen afghanischen Staatsangehörigen den Schutz von § 53 Abs. 6 AuslG zuzuerkennen (vgl. z. B. OVG Hamburg, Urt. v. 23.02.2001, InfAuslR 2001, 373 , und Urt. v. 06.07.2001 - 1 Bf 549/98.A -; OVG Bautzen, Urt.v. 29.02.2000 - A 4 B 4289/97 -; VG Darmstadt, Urt. v. 27.06.2002 -2 E 30447/99.A - , sämtlich juris). Eine vergleichbare Zuspitzung der Versorgungslage lässt sich auch zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung feststellen (Abweichung von der mit der Anwesenheit zahlreicher Hilfsorganisationen in Afghanistan und deren flexibler Reaktion auf unvorhergesehene Lageverschärfungen begründeten früheren Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urt. v. 24.04. u. 28.08.2002, a.a.O.; ebenso noch VG Sigmaringen, Urt. v. 18.07.2005 - A 2 K 11626/03 - ; VG Stade, Urt. v. 29.11.2004 - 6 A 1694/03 - für den Raum Kabul; VG Arnsberg, Urt. v. 18.11.2004 - 6 K 4553/03.A - ebenfalls für Kabul, sämtlich juris). Das beruht auf folgenden Erwägungen:

Es ergibt sich zwar weiterhin aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln und ist auch allgemeinkundig, dass in Afghanistan auch derzeit noch zahlreiche supranationale, staatliche und auch private Hilfsorganisationen die Versorgung der notleidenden Bevölkerung einschließlich Rückkehrern zu sichern versuchen. Gleichwohl ist die Versorgungslage äußerst problematisch.

Das Auswärtige Amt (Lagebericht v. 21.06.2005) bezeichnet die Wirtschaftslage Afghanistans als einem der ärmsten Länder der Welt als "desolat". Die humanitäre Situation stehe mit Blick auf die etwa vier Millionen zurückgekehrten Flüchtlinge, vornehmlich aus Pakistan, vor "großen Herausforderungen" (jeweils S. 5). Die Wohnraumversorgung sei unzureichend, knapp und die Preise in Kabul seien hoch (S. 27). Die Versorgungslage in Kabul und anderen großen Städten habe sich grundsätzlich verbessert, in anderen Gebieten sei sie weiter "nicht zufrieden stellend bis völlig unzureichend" (S. 27). Humanitäre Hilfe sei weiterhin "von erheblicher Bedeutung"; sie werde im Norden durch Zugangsprobleme, im Süden und Osten durch Sicherheitsprobleme erschwert (S. 27). Die medizinische Versorgung sei völlig unzureichend, selbst in Kabul (S. 27). Rückkehrer könnten "auf Schwierigkeiten stoßen", wenn sie außerhalb eines Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehrten und ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie örtliche Kenntnisse fehlten (S. 6, 27). Freiwillige Rückkehrer zu ihren Angehörigen und zum Teil auch in die ehemaligen Unterkünfte strapazierten die nur sehr knappen Ressourcen an Wohnraum und Versorgung noch weiter (S. 28). UNHCR habe mit verschiedenen Organisationen eine Vereinbarung über die Errichtung von Unterkünften geschlossen; bis Ende 2003 seien knapp 70.000 gebaut worden, 2004 wegen fehlender Finanzen nur noch 27.000 (S. 29). Die Fortsetzung der Hilfsoperationen von UNHCR und IOM (International Organisation for Migration) seien von neuen Unterstützungszusagen der Geberländer abhängig (S. 29).

Schon dieses vom Auswärtigen Amt gezeichnete Bild erscheint äußerst düster.

Noch düsterer stellt es sich nach dem "Bericht über eine Untersuchung in Afghanistan im Zeitraum März/April 2005" dar ("Rückkehr nach Afghanistan" v. Juni 2005, herausgegeben v. Informationsverbund Asyl e.V. und der Stiftung Pro Asyl, verfasst v. Rechtsanwältin V. Arendt-Rojahn, Vizepräsidentin des VG Frankfurt/Main E. Buchberger, Rechtsanwalt A. Schreckmann, Rechtsanwalt V. Pfaff u. M. B. El- Mogaddedi, im Folgenden "Bericht").

In Würdigung dieser Gesamtumstände muss zur Überzeugung der Kammer zwar nicht befürchtet werden, dass bei einer Rückkehr jeder afghanische Staatsangehörige "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert" würde. Das muss aber für die Bevölkerungsgruppe der langjährig in Europa ansässigen nicht freiwillig zurückkehrenden Flüchtlinge angenommen werden, die nicht auf den Rückhalt von Verwandten oder Bekannten/Freunden in Afghanistan und/oder dortigen erreichbaren Grundbesitz zurückgreifen können und/oder über für ein Leben am Existenzminimum ausreichende Ersparnisse verfügen und die deshalb außer Stande sind, aus eigener Kraft für ihre Existenz zu sorgen.

Denn diese Rückkehrer haben keinerlei realistische Chance, der Obdachlosigkeit und der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Ein Unterkommen wäre allenfalls in den Zeltlagern denkbar, die aber bereits überfüllt sind und deren Verfestigung und Vergrößerung von den Hilfsorganisationen nicht gewünscht wird mit der Folge, dass diese keine weiteren Zelte zur Verfügung stellen. Selbst eine Betätigung als Tagelöhner ist angesichts des Heeres von freiwilligen Rückkehrern, die sich um solche Einkommensquellen bemühen, so gut wie ausgeschlossen. Die abgeschobenen Rückkehrer unterfallen auch nicht dem Mandat von UNHCR und können deshalb auch nicht mit ausreichender humanitärer Hilfe rechnen. Insgesamt sind die Hilfsorganisationen durch den gewaltigen Zustrom der freiwilligen Rückkehrer, insbesondere aus Pakistan und Iran, der auch im Jahr 2006 anhalten wird, derart an ihre Grenzen gestoßen, dass sie zusätzliche nicht freiwillige Rückkehrer, deren Betreuung und Versorgung folglich auch nicht vorbereitet werden kann und die nicht für sich selbst sorgen können, nicht mehr verkraften können. Solche Rückkehrer sind daher der ernstlichen Gefahr ausgesetzt, mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert zu sein. Diese Gefahr verstärkt sich noch durch den bevorstehenden Winter.

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass bereits über 1.000 afghanische Staatsangehörige nicht freiwillig zurückgekehrt, sondern zwangsweise zurückgeführt worden sind, ohne dass bekannt geworden wäre, dass sie dem Hungertod zum Opfer gefallen seien oder auch nur ernsthaft davon bedroht gewesen wären. Denn diese Rückführungen erfolgten sämtlich im Rahmen der abgeschlossenen Drei-Parteien-Vereinbarungen, in der Mehrzahl aus Großbritannien. Sie waren deshalb auch in Afghanistan vorbereitet und begleitet, während dies bei Abschiebungen aus Deutschland mangels eines solchen Abkommens nicht der Fall ist (entgegen den noch im Urteil v. 24.04.2002 - A 10 K 10307/98 - geäußerten Erwartungen der Kammer).

Auch die Zahl der in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen vermag an dieser Beurteilung nichts zu ändern. Immerhin konnten sie nicht verhindern, dass - wie erwähnt - in den Flüchtlingslagern bereits geschwächte Menschen zu Tode gekommen sind. Auch ist die hohe Zahl deswegen zu relativieren, weil gegen zahlreiche NGOs Vorwürfe der Eigennützigkeit erhoben werden und deshalb Zweifel an ihrer Effektivität angebracht erscheinen.