VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 06.02.2006 - 8 K 20292/05 We - asyl.net: M7795
https://www.asyl.net/rsdb/M7795
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Christen im Irak; keine extreme allgemeine Gefährdungslage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG.

 

Schlagwörter: Irak, Christen, Jesiden, Gruppenverfolgung, religiös motivierte Verfolgung, Terrorismus, Kriminalität, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, nichtstaatliche Verfolgung, Folgeantrag, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine Gruppenverfolgung von Christen im Irak; keine extreme allgemeine Gefährdungslage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat nach Überzeugung der Kammer zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak infolge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Veränderung der Verhältnisse keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG. Auch soweit § 60 Abs. 1 AufenthG die Voraussetzungen für den Abschiebungsschutz politisch Verfolgter weiter fasst als die Vorgängerregelung in § 51 Abs. 1 AuslG, wirkt sich dieser übergreifende Schutz nicht zugunsten des Klägers aus.

Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen sind die Übergriffe gegenüber Christen aber nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG begründen könnten (VGH München, Urteil vom 10.05.2005, - 23 B 05.30185; Beschluss vom 13.10.2005, - 23 B 05.30308 -, so auch OVG Rheinland-Pfalz vom 24.1.2005 Az. 10 A 10001/05.OVG). Der nach seinem Vortrag unverfolgt ausgereiste Kläger hat nach Überzeugung des Gerichts zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak infolge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Veränderung der Verhältnisse eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht zu befürchten, auch nicht wegen seiner Religionszugehörigkeit.

Staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Christen sind nach der Auskunftslage nicht ersichtlich. Daher kann schon nicht § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zur Anwendung kommen.

Das Aufenthaltsgesetz brachte gegenüber dem bisherigen Ausländergesetz insoweit keine Veränderungen der Rechtslage. Der Wortlaut des § 53 Abs. 4 AuslG wurde unverändert in § 60 Abs. 5 AufenthG übernommen. Hätte der Gesetzgeber eine Ausweitung der Abschiebungshindernisse im Rahmen dieser Vorschrift beabsichtigt, hätte er deren Wortlaut ändern und anders fassen müssen. Dieses unterblieb jedoch.

Die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG (= § 53 Absatz 6 Satz 1 AuslG (a.F.)) sind auch nicht gegeben, denn von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit der Klägerin kann nicht ausgegangen werden.

Für den Kläger müsste somit eine über die beachtliche Wahrscheinlichkeit hinausgehende überwiegende Wahrscheinlichkeit der oben genannten Rechtsverletzungen bestehen (vgl. BVerwG, Urteile von dem 17. Oktober 1995 -BVerwG 9 C 15.95 und von dem 19. November 1996 -1 C 6.95 -, InfAuslR 1997, S. 193, 197).

Dass die allgemeine Gefährdungssituation im Irak ein solches extremes Maß erreicht hätte, kann das Gericht anhand der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Auskunftsmittel nicht feststellen (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak vom 7.Mai 2004, Stand April 2004, vom 2. November 2004, Stand: Oktober 2004 und vom 10. Juni 2005, Stand: Mai 2005; Informationszentrum Asyl und Migration "Briefing Notes" des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.11.2004, vom 03.01.2005, vom 14.02.2005, vom 28.02.2005, vom 07.03.2005, vom 11.04.2005 und vom 06.06.2005; UNHCR, Mitteilung August 2004; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: 10. Fortschreibung der "Information - Der Irak nach dem 3. Golfkrieg" vom 25.10.2004 - Die Situation nach der Übergabe der Macht an die irakische Übergangsregierung, Stand der politischen uns administrativen Gestaltung, innere Sicherheit, humanitäre Situation -; UNHCR, April 2005, Oktober 2005, "Christen und andere religiöse Minderheiten").

Der Kläger könnte deshalb nach alledem bei einer Rückkehr in den Irak dort wie andere Landsleute in vergleichbarer Lage leben. Zwar ist es seit dem Sturz des Baath-Regimes zu Übergriffen gegen Alkoholläden und deren yezidischen oder christlichen Besitzer gekommen. Generelle Misshandlungen oder gar landesweite Verfolgungen von religiösen Minderheiten wegen ihrer Religionszugehörigkeit oder Übergriffe lassen sich aber nicht feststellen. Zwar haben insbesondere die Bombenanschläge auf christliche Kirchen Anfang August 2004 und erneut am 16.10.2004 bei den Christen im Irak große Zukunftsängste geweckt. Es wird von mehreren Tausend Flüchtlingen Richtung Nordirak und Syrien gesprochen. Die Ministerin für Migration hat christliche Fluchtbewegungen bestätigt. Die nicht zu leugnende Gefährdung der Christen im Irak durch islamistische Gruppierungen hat jedoch nicht den Charakter einer Gruppenverfolgung. Es handelt sich vielmehr um Terrorakte, die - unvorhersehbar - letztlich jeden treffen können. In diesem Sinne hat auch das Oberhaupt der Chaldäer von Babylon Patriarch Emanuel III jüngst erklärt: "Die Gefahren sind dieselben für Christen und Muslime oder Angehörige anderer Konfessionen in diesem Land. Wir leiden alle gemeinsam. Die Terroristen verschonen nichts und niemanden, jeder ist ein potenzielles Opfer", OVG Koblenz, Beschluss vom 24.01.2005, - 10 A 10001/05 -; Bay VGH, 10.05.2005, -23 B 05.30190 -. Dies gilt auch für Rückkehrer aus westlichen Ländern. Generell treten Rückkehrer vielmehr "in dasselbe Sicherheitsumfeld" ein, in dem sich die gesamte Bevölkerung zurechtfinden muss. Planmäßige Übergriffe auf religiöse Minderheiten lassen sich nicht feststellen. Auch vor dem Hintergrund interethnischer Auseinandersetzungen ist allenfalls davon auszugehen, "dass einige Rückkehrer möglicherweise eine begründete Furcht vor Verfolgung" geltend machen können (vgl. UNHCR, a.a.O.). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Berichten des UNHCR (Hintergrundinformationen zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten, Oktober 2005) und der vom Kläger vorgelegten Operational Guidance Note IRAK des britischen Home Office vom 12.01.2006. Auch darin ist lediglich von Gefahren in bestimmten Fällen die Rede. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger hiervon betroffen sein könnte.

Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im Irak, der der Kläger bei Rückkehr in ihr Heimatland ausgesetzt wäre, begründet ebenfalls keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG.