LSG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.01.2006 - L 20 B 15/05 AY ER - asyl.net: M7796
https://www.asyl.net/rsdb/M7796
Leitsatz:

Keine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts i.S.d. § 2 AsylbLG bei Inanspruchnahme von gerichtlichem Rechtsschutz zur Durchsetzung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Rechtsmissbrauch, Aufenthaltsdauer, freiwillige Ausreise, Rechtsschutz, Abschiebungshindernis, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: SGG § 86b Abs. 2; AsylbLG § 2 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2003/9/EG Art. 13 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

Keine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts i.S.d. § 2 AsylbLG bei Inanspruchnahme von gerichtlichem Rechtsschutz zur Durchsetzung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach § 86 b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Absatzes 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes im Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2).

Der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung kann im vorliegenden Einzelfall nicht deshalb abgelehnt werden, weil ein Anordnungsgrund nicht bestehe. Zwar hat der Senat in einem anderen Verfahren, in dem die Frage, ob ein Antragsteller die Dauer seines Aufenthalts im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG rechtsmissbräuchlich beeinflusst hatte, mit Blick auf mögliche Ausreisehindernisse schwierig und deshalb durch summarische Prüfungen im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht beantwortbar war, hinsichtlich des Anordnungsgrundes ausgeführt, Leistungen nach § 3 ff. AsylbLG stellten schon nach der gesetzlichen Wertung jedenfalls eine ausreichende Existenzsicherung dar. Dem könne nicht entgegen gehalten werden, auch die Sozialhilfe nach dem SGB XII sichere bereits einen nicht unterschreitbaren Grundbedarf. Die Leistungen nach § 3 ff. AsylbLG hätten sich schließlich in einer Vielzahl von Fällen als geeignet erwiesen, die notwendige Existenzsicherung für Asylbewerber zur Verfügung zu stellen. Diese Leistungen hielten sich im Übrigen auch im Rahmen der Richtlinie 2003/9/EG des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedsstaaten vom 27.01.2003 (AmtsBl. EU L 31/18, 06.02.2003), die in Art. 13 Abs. 2 S. 1 den Mitgliedsstaaten die Sicherung eines Lebensstandards der Asylbewerber aufgebe, der die Gesundheit und den Lebensunterhalt gewährleiste (vgl. Beschluss des Senats vom 21.12.2005 - L 20 (9) B 37/05 SO ER).

Im hier zu entscheidenden Fall erweist sich nach summarischer Prüfung der Anordnungsanspruch derzeit als glaubhaft gemacht. Dem Hauptsacheverfahren wird vorbehalten bleiben, festzustellen, ob der Anspruch auch unter Berücksichtigung der anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren besteht. Zwischen den Beteiligten ist alleine streitig, ob die Antragsteller die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben bzw. selbst beeinflussen. Soweit die Antragsgegnerin diesbezüglich die Rechtsmissbräuchlichkeit darauf stützt, dass die Antragsteller freiwillig ausreisen könnten, ist ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht erkennbar. Ein solches liegt auch nicht in der Beanspruchung verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes zur Durchsetzung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG. Zur Auslegung des Begriffs der Rechtsmissbräuchlichkeit verweist der Senat insoweit auf die Gesetzesmaterialien zu § 2 AsylbLG (vgl. BT-Drs. 15/1420, S. 121). Darin heißt es u. a., die Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) solle wie im derzeit geltenden Recht grundsätzlich für alle Fälle des § 1 nach 36 Monaten erfolgen. Ausgenommen seien nur die Fälle, in denen der Ausländer rechtsmissbräuchlich die Dauer seines Aufenthalts (z. B. durch Vernichtung des Passes, Angabe einer falschen Identität) selbst beeinflusst habe. Dies entspreche auch der Intention des Gesetzes, zwischen denjenigen Ausländern zu unterscheiden, die unverschuldet nicht ausreisen könnten und denjenigen, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkämen. Die Antragsteller begründen ihren Wunsch auf ein Verbleiben im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland damit, dass im Falle der Rückkehr nach Serbien-Montenegro insbesondere die Erkrankung der Antragstellerin zu 3) nicht adäquat behandelbar wäre. In der Durchsetzung eines Abschiebeverbots gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG liegt kein von der Rechtsordnung missbilligtes, subjektiv vorwerfbares Verhalten eines Ausländers, das ursächlich für einen tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet war oder ist (vgl. auch OVG Bremen, Beschluss v. 06.09.2005 - S 3 B 199/05). Dass nicht jedes auf Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland gerichtete Verhalten als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren ist, ergibt sich bereits aus den in der Gesetzesbegründung (a.a.O.) aufgeführten Beispielen.