VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 19.12.2005 - 6 K 5/04 - asyl.net: M7842
https://www.asyl.net/rsdb/M7842
Leitsatz:

Bei langjährigem Aufenthalt, guter Integration und Entfremdung von den Lebensbedingungen im Herkunftsland kann sich ein rechtliches Ausreisehindernis i.S.d. § 25 Abs. 5 AufenthG aus dem Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK ergeben.

 

Schlagwörter: D (A), Ausreisehindernis, abgelehnte Asylbewerber, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Integration, EGMR, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Privatleben, Aufenthaltsdauer, rechtmäßiger Aufenthalt
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; EMRK Art. 8
Auszüge:

Bei langjährigem Aufenthalt, guter Integration und Entfremdung von den Lebensbedingungen im Herkunftsland kann sich ein rechtliches Ausreisehindernis i.S.d. § 25 Abs. 5 AufenthG aus dem Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK ergeben.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Entscheidung der Beklagten vom 26.08.2003 sowie der hierzu ergangene Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 05.12.2003 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten. Denn diese haben keinen Anspruch auf Erteilung der von ihnen erstrebten Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 5 AufenthG (§ 3 Abs. l Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Die Kläger sind zwar sämtlich, wie dies § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG fordert, vollziehbar ausreisepflichtig, ihre Ausreise in den Kosovo/Serbien und Montenegro ist jedoch zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung weder aus tatsächlichen noch aus rechtlichen Gründen unmöglich, weshalb der von den Klägern geltend gemachte Anspruch bereits wegen Fehlens der tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensermächtigung des § 25 Abs. 5 AufenthG nicht gegeben ist.

Der Begriff der rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise in § 25 Abs. 5 AufenthG, auf welchen die Kläger ihr Begehren gründen, kann nach der Gesetzessystematik nur Gesichtspunkte erfassen, welche nicht bereits von § 25 Abs. 1 AufenthG (Anerkennung als Asylberechtigter), § 25 Abs.2. AufenthG (Abschiebungsverbot nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge), oder nach § 25 Abs. 3 AufenthG (Abschiebungsverbot nach 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG) erfasst werden. Hierzu rechnen insbesondere sonstige auf Verfassungs- bzw. Europarecht gegründete Rechtsstellungen des Ausländers, welche etwa bei der Frage der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme Berücksichtigung zu finden haben.

Die Kläger haben insoweit thematisch zutreffend zur Begründung ihres Begehrens auf Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) abgehoben. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Absatz 2 ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieser Rechte nur dann statthaft, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral und zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Soweit sich insbesondere die Kläger zu 3 bis 5 in dem vorliegenden Verfahren darauf berufen haben, die von der Beklagten beabsichtigte Beendigung ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet berühre ihr in Deutschland verwurzeltes Privatleben im Sinne von Art.8 Abs. l EMRK, ist dieses Argument auch nicht von vornherein von der Hand zu weisen. Jedenfalls die 1987, 1988 und 1991 geborenen Kläger zu 3 bis 5 müssen als in Deutschland aufgewachsen angesehen werden. Sie haben seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet Anfang 1992 zwischenzeitlich nahezu 14 Jahre ihrer Kindheit bzw. Jugend im Bundesgebiet verbracht.

Indes folgt aus Art. 8 EMRK grundsätzlich noch kein Recht des Ausländers, in ein bestimmtes Land einzureisen und sich dort aufzuhalten (EGMR, Urt. v. 16.06.2005, InfAuslR 2005, 349 - Entscheidung vom 16.09.2004, NVwZ 2005, 1046 - Ghiban -; BVerwG, Urt. v. 03.06.1997, NVwZ 1998, 189). Ein Eingriff in das von Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben durch Versagung des Aufenthalts eines Ausländers setzt zudem voraus, dass dessen Privat- oder Familienleben in dem betreffenden Land fest verankert und nicht auf eine lose Verbindung beschränkt ist. In der Rechtsprechung des EGMR ist anerkannt, dass die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis nur dann einen nicht gerechtfertigten Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellt, wenn ein Missverhältnis zwischen den angewandten Mitteln und dem verfolgten Ziel besteht, wobei in den vom EGMR entschiedenen Fällen ein solches schützenswertes Privatleben durch starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum Aufnahmestaat aufgenommen wurde. Die bloße Tatsache, dass ein Ausländer sich über längere Zeit in Deutschland aufhält, macht ihn für sich genommen noch nicht zu einem faktischen Inländer. Eine solche Annahme setzt vielmehr außer einem langjährigen Aufenthalt, dessen Mindestdauer nicht abstrakt definiert werden kann, eine vollständige Integration in das hiesige wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben im Sinne einer "Verwurzelung" voraus. Dazu gehört regelmäßig, dass der Ausländer gute Sprachkenntnisse besitzt, er über ausreichenden Wohnraum verfügt, seinen Lebensunterhalt einschließlich ausreichendem Krankenversicherungsschutz ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann und sich während seines gesamten Aufenthaltes in Deutschland keine wesentlichen Straftaten hat zu Schulden kommen lassen. Für eine gelungene Integration dürfte es ferner mit entscheidungserheblich sein, dass der Ausländer einen Arbeitsplatz besitzt oder soweit es sich um Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene handelt, sich in einer Ausbildung befindet, die zumindest die Chance auf einen späteren Arbeitsplatz eröffnet. Eine Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben in Deutschland (politisches, kulturelles, religiöses/kirchliches Engagement, Aktivitäten in Vereinen oder Verbänden) ist positiv zu bewerten, aber nicht unerlässlich. Ob ein Ausländer im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK als faktischer Ausländer (sic!) zu betrachten ist, hängt weiter davon ab, über welche Beziehungen er zu dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, noch verfügt, d.h. ob er insoweit gewissermaßen dergestalt "entwurzelt" ist, dass eine Reintegration in das Land seiner Herkunft nicht zumutbar erscheint. Diesbezüglich hat die Kenntnis der dortigen Sprache und die Vertrautheit mit den Verhältnissen in diesem Land so sowie die Existenz dort noch lebender und aufnahmebereiter Verwandter entscheidungserhebliche Relevanz (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 02.11.2005 - 1 S 3023/04 -; VG Stuttgart, Urt. v. 22.11.2005 - 12 K 2469/04 -; VG Karlsruhe, Urt. v. 07.09.2005 - K 1390/03 -, jeweils mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR).

Welche Qualität der Aufenthaltsstatus des Ausländers haben muss, um hinsichtlich der Frage der Aufenthaltsbeendigung Grundlage eines im Sinne von Art. 8 Abs.1 EMRK schützenswerten Privatlebens als Summe der persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zu sein, ist - soweit ersichtlich - in der Rechtsprechung des EGMR noch nicht eindeutig geklärt (vgl. etwa einerseits die Einscheidung vom 16.09.2004 sowie andererseits Urt. v. 16.06.2005, jeweils a.a.O.). Insoweit neigt der Einzelrichter indes zu der Auffassung, dass in diesem Zusammenhang allzu hohe Anforderungen nicht gestellt werden können. Denn "faktischer" Inländer und damit grundsätzlich durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützt ist, wer faktisch hier geboren oder aufgewachsen und im obigen Sinne vollständig in die Gesellschaft integriert ist (wie VG Stuttgart. Urt. v. 22.11.2005 - 12 K 2469/04 -). Ob dieses - insbesondere bei Kindern - auf der Grundlage eines förmlichen Aufenthaltstitels oder wegen einer durch Verwaltungsakt ausgesprochenen langjährigen Aussetzung der Abschiebung stattgefunden hat, dürfte keine entscheidende Rolle spielen.

Ausgehend von diesen Maßgaben kann zunächst für die Kläger zu 1 und 2 sowie für die Klägerin zu 6, ein Kleinkind, noch nicht von einer entsprechenden "Verwurzelung" in den Lebensverhältnissen der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen werden.

Was die Kläger zu 3 bis 5 anbetrifft, spricht zwar insbesondere deren langjähriger Aufenthalt während der Zeit ihrer Kindheit und ihrer Jugend im Bundesgebiet für das Vorliegen einer nach Art. 8 Abs.1 EMRK unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zu berücksichtigenden "Verwurzelung" dieser Kläger in Deutschland. Allein der erfolgte Zeitablauf sowie ein erfolgreicher Abschluss der Schulausbildung bzw. der Beginn einer Berufsausbildung im Bundesgebiet lassen nach der Auffassung des Einzelrichters aber noch nicht zwingend auf das Vorliegen einer rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise insbesondere der Kläger zu 3 bis 5 im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG schließen.

Von besonderer Bedeutung in dem vorliegenden Zusammenhang wäre gewesen, ob die erfolgte Sozialisation der Kläger zu 3 bis 5 in enger Bindung zu den Lebensverhältnissen in Deutschland oder etwa abgeschottet von diesen allein im Rahmen eines noch den Bräuchen und Traditionen des Herkunftslands verhafteten Familienverbunds erfolgt ist.