VG Lüneburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 14.12.2005 - 1 A 66/03 - asyl.net: M7877
https://www.asyl.net/rsdb/M7877
Leitsatz:
Schlagwörter: Vietnam, Anerkennungsrichtlinie, objektive Nachfluchtgründe, Folgeantrag, Oppositionelle, Glaubwürdigkeit, exilpolitische Betätigung, Buddhisten, Administrativhaft, religiös motivierte Verfolgung, Rückführungsabkommen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 5; AsylVfG § 28 Abs. 2; RL Art. 11 Abs. 1 Bst. e; AsylVfG § 71
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet, soweit es der Klägerin mit ihrem Sohn um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.

1. § 60 Abs. 1 AufenthG hat das Verhältnis zur Asylanerkennung (Art. 16 a GG) tiefgreifend verändert (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG, Rdn. 12, 13). Mit der Vorschrift hat sich nämlich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/83/EG v. 30.9.2004 ein Perspektivwechsel zu einer prognostischen Opferbetrachtung vollzogen (vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.; Urteil der Kammer v. 7.9. 2005 - 1 A 240/02 -).

3. Ausgangspunkt dabei ist, dass es einen objektiven Nachfluchttatbestand darstellt, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Betätigungen verändert (BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat veränderte Verhältnisse herrschen. Auf derartige Ereignisse (Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG) hat der Asylbewerber keinen Einfluss. Ihre Veränderung kann zur Anerkennung führen - gerade auch mit Blick auf § 28 AsylVfG.

3.1 Hier liegt es so, dass sich die Verhältnisse in Vietnam iSe objektiven Nachfluchtgrundes gerade in letzter Zeit erheblich verschärft haben, wie die entsprechenden sachkundigen Berichte über die Verhältnisse in Vietnam aus dem Jahre 2005 zeigen. Die Aktivitäten der Klägerin würden heute sehr viel schärfer geahndet als im Jahr 2000, als die Klägerin Vietnam verlassen hat. Deshalb ist die Klägerin im Falle der Rückkehr bedroht.

Für die insoweit erforderliche Gesamtschau und -bewertung ist die Einschätzung von Sachkennern, Gutachtern und Beobachtern der vietnamesischen Verhältnisse zu berücksichtigen, die in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt ist (vgl. z.B. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - und v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -). Darauf kann hier Bezug genommen werden.

3.3 Die Klägerin ist entgegen den Ausführungen im angefochtenen Bescheid auch glaubwürdig.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass den eigenen Erklärungen der Klägerin größere Bedeutung als sonst bei Parteibekundungen zuzumessen ist und diese im Übrigen wohlwollend zu beurteilen sind. Vgl. dazu OVG Lüneburg, Beschl. v. 21.3.1997 - 12 L 1595/97 -: Der Asylsuchende ist aufgrund der ihm obliegenden Mitwirkungspflicht gehalten, die in seine Sphäre fallenden Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern (BVerwG, Beschl. v. 30.10.1990 - BVerwG 9 C 72.89 -, Buchholz, aaO, Nr. 135). Das Gericht muß sich die feste Überzeugung vom Wahrheitsgehalt des Vorbringens verschaffen (BVerwG, Urt. v. 16.4.1985 - BVerwG 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180 (181); Urt. v. 12.11.1985 - BVerwG 9 C 27.85 -, EZAR 630 Nr. 23). Allerdings ist der Lage des Asylbewerbers, der sich in der Regel in einem Beweisnotstand befindet, insoweit Rechnung zu tragen, daß den eigenen Erklärungen des Asylsuchenden größere Bedeutung beizumessen ist als dies üblicherweise in der Prozeßpraxis bei Bekundungen einer Partei geschieht, auch soll der Beweiswert der Aussage des Asylbewerbers im Rahmen des Möglichen wohlwollend beurteilt werden (siehe dazu BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, aaO; Urt. v. 1.10.1985 - BVerwG 9 C 20.85 -, Buchholz, aaO, Nr. 37). Andererseits kann der Umstand, daß der Asylbewerber den Beweis einer zum Gesamtergebnis des zum Verfahrens gehörenden Tatsache vereitelt oder anderweitig unmöglich macht, ein bei der Überzeugungsbildung maßgeblicher Umstand sein. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Asylsuchenden nur geglaubt werden, wenn diese Unstimmigkeiten überzeugend aufgelöst werden können (BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, aaO; Urt. v. 23.2.1988 - BVerwG 9 C 32.87 -, EZAR 630 Nr. 25; siehe auch BVerfG - 1. Kammer des Zweiten Senats -, Beschl. v. 29.1.1991 - 2 BvR 1384/90 -, InfAuslR 1991, 171 (175) und Beschl. v. 12.3.1992 - 2 BvR 721/91 -, InfAuslR 1992, 231 (233)).

Somit kann nicht jede Ungenauigkeit oder (geringfügige) Widersprüchlichkeit im Vortrag eines Asylbewerbers schon als Beleg für einen auch im Kern unglaubwürdigen Vortrag gewertet werden. Das gilt insbesondere für Zeitangaben und die genaue Zahl von Ereignissen. Aus diesbezüglichen Ungenauigkeiten kann nicht - wie im angefochtenen Bescheid - eine Unglaubwürdigkeit abgeleitet werden, vor allem dann nicht, wenn das vorgetragene Gesamtgeschehen sich in sonstige Erkenntnisse einfügt und im Abgleich zu anderen Informationsquellen als zutreffend angenommen werden kann. Erst dann, wenn die Tatsachenwidrigkeit und Widersprüchlichkeit den berechtigten Schluss zulässt, der Vortrag sei insgesamt nicht auf eigene Erlebnisse gestützt, kann von Unglaubwürdigkeit gesprochen werden (vgl. VG Braunschweig, Beschl. v. 5.3.2003 - 6 B 75/03 -; BGH NJW 1999, 1562, 1564).

Belanglos ist im Rahmen der Glaubwürdigkeitsprüfung, dass bei der Entscheiderin der Beklagten in Erwartung eines hohen "Detailreichtums" subjektiv "auch nicht der leiseste Verdacht auf Glaubhaftigkeit der Schilderung" aufgekommen ist. Die bei der Anhörung vom 28.9.2000 in mehrfachen Nachfragen zum Ausdruck gelangte Erwartung, den Inhalt der Videokassetten detailliert und genau beschreiben zu können, könnte nämlich deshalb nicht hinreichend erfüllt worden sein, weil diese Erwartung unter Berücksichtigung der Schulbildung der Klägerin (Verlassen der 9. Klasse der Mittelschule) und deren Ausdrucksvermögen schon "zu hoch gesteckt" gewesen sein könnte und daneben das Hauptinteresse der Klägerin, nämlich die Videokassetten verkaufen zu wollen, im Vordergrund gestanden haben dürfte (vgl. dazu schon S. 4 d. Beschl. v. 6.5.2003).

3.5 Die der Klägerin als einer "Andersdenkenden" bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte dürften ihre leibliche Unversehrtheit, ihre physische Freiheit sowie ihre Meinungsfreiheit und vor allem ihre "politische Überzeugung" zum Gegenstand haben (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie). Sie ist in Deutschland in mehrfacher Hinsicht exilpolitisch aktiv gewesen und noch aktiv (vgl. die im Verfahren vorgelegten Unterlagen), was den vietnamesischen Sicherheitskräften nicht verborgen geblieben sein dürfte.

3.6 Verfolgungsmaßnahmen könnten der Klägerin in hohem Maße auch deshalb drohen, weil sie buddhistischen Glaubens ist (vgl. Protokoll v. 14.12.2005): Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden die Tendenzen religiöser Orientierung in Nord-, Nordwest- und Mittelvietnam "als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen" (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6). Mehr als 150.000 Angehörige des Hmong-Volkes z.B. sind zum christlichen Glauben übergetreten. "Die Unruhen im zentralen Hochland Vietnams im Februar 2001 müssen im Kontext dieses religiösen Konflikts gesehen werden..." (AA, aaO.).

3.7 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen die Klägerin ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. "administrative Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt. Auch dieser Aspekt ist in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).

3.9 Auf die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren kommt es - entgegen den Ausführungen im angefochtenen Bescheid - heute (Ende 2005) nicht mehr an: (...)