FG Niedersachsen

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Zitieren als:
FG Niedersachsen, Urteil vom 23.01.2006 - 16 K 12/04 - asyl.net: M7883
https://www.asyl.net/rsdb/M7883
Leitsatz:
Schlagwörter: Kindergeld, Aufenthaltsbefugnis, Aufenthaltstitel, Bundesverfassungsgericht, Verfassungswidrigkeit
Normen: EStG § 62 Abs. 2; AuslG § 51; AuslG § 53; AuslG § 54; GG Art. 100 Abs. 1
Auszüge:

Für den Zeitraum Oktober 2001 bis Dezember 2003 ist die Klage indes zulässig und begründet.

Allerdings hat nach § 62 Abs. 2 EStG in der bis einschließlich 2004 gültigen Gesetzesfassung ein Ausländer einen Anspruch auf Kindergeld nur, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist. Über einen entsprechenden Aufenthaltstitel verfügte der Kläger in den Jahren 2001 bis 2003 nicht.

§ 62 Abs. 2 EStG ist jedoch einschränkend verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass der Ausschluss der Kindergeldberechtigung für solche Ausländer nicht gilt, die nach den §§ 51, 53 oder 54 Ausländergesetz auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können und die sich seit mindestens einem Jahr ununterbrochen in Deutschland aufhalten.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 6. Juli 2004 1 BvL 4,5,6/97, BVerfGE 111, 160 entschieden, dass § 1 Abs. 3 Satz 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993 (BGBl. I 1993, 2353) mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) unvereinbar ist, weil keine Gründe von solchem Gewicht ersichtlich sind, die die unterschiedliche Behandlung ausländischer Eltern ohne Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis im Vergleich zu anderen ausländischen Eltern rechtfertigen könnten. Der Gesetzgeber dürfe nicht allein aus fiskalischen Erwägungen heraus eine Gruppe von Personen, gegenüber denen der Staat aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG zu einem Familienlastenausgleich verpflichtet ist, von einer bestimmten Leistung ausschließen, die anderen gewährt wird. Der Ausschluss müsse sachlich gerechtfertigt sein, woran es hier fehle. Deutsche, Ausländer mit Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis und Ausländer ohne einen solchen Titel, die aber dennoch legal in Deutschland lebten, seien in gleicher Weise durch die persönlichen und finanziellen Aufwendungen bei der Kindererziehung belastet. Soweit es Ziel der gesetzlichen Neuregelung gewesen sei, Kindergeld nur solchen Ausländern zu gewähren, die sich auf Dauer in Deutschland aufhalten, sei die Regelung ungeeignet, dieses Ziel zu erreichen, weil einerseits diejenigen, die über eine Aufenthaltsbefugnis verfügen, sich nicht typischerweise nur kurzfristig in Deutschland aufhielten, andererseits eine Aufenthaltserlaubnis auch befristet bei kurzfristigem Aufenthalt erteilt werde.

Diese Erwägungen und Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts treffen in gleicher Weise auf § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG in der Fassung des Jahressteueränderungsgesetzes 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl. I 1250) zu, weil diese Vorschrift mit § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG in der Fassung vom 21. Dezember 1993 wortlautgleich ist. Dabei ist es unerheblich, dass sich die Regelung nunmehr in einem anderen Gesetz findet und rechtssystematisch in einen anderen Kontext eingebettet ist. Denn die Problematik, dass eine Gruppe von Eltern ohne sachlichen Grund aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten ausgegrenzt wird, stellt sich hier wie dort. Im Ergebnis ist deshalb auch § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss 1 BvL 4,5,6/97 (a.a.O.) dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 1. Januar 2006 gesetzt, durch eine Neuregelung einen verfassungskonformen Zustand herzustellen. Diese Frist hat der Gesetzgeber sowohl für das BKGG als für die entsprechende Regelung im EStG ungenutzt verstreichen lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat zum BKGG entschieden, dass, sollte der Gesetzgeber in der ihm gesetzten Frist nicht reagieren, für alle noch nicht rechts- oder bestandskräftig abgeschlossene Verfahren das bis zum 31. Dezember 1993 geltende Recht, d.h., das BKGG in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I 1990, 1354), anzuwenden ist. Nach dieser Gesetzesfassung haben Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich des Gesetzes aufhalten, einen Anspruch dann, wenn sie nach den §§ 51, 53 und 54 AuslG auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr.

Da § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG an dem gleichen verfassungsrechtlichen Makel leidet wie § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993, ist die Vorschrift entsprechend dem Entscheidungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls verfassungskonform dahingehend einschränkend auszulegen, dass nur jenen ausländischen Eltern kein Kindergeld zu gewähren ist, in deren Person kein Abschiebungshindernis nach §§ 51, 53 und 54 AuslG vorliegt oder die sich nicht wenigstens ein Jahr ununterbrochen in Deutschland aufhalten.

Das Gericht ist nicht gehalten, nach Art. 100 Abs. 1 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Hat das Bundesverfassungsgericht bereits eine Entscheidung zu einer vergleichbaren Rechtsvorschrift getroffen, kann das unterinstanzliche Gericht diese Entscheidung in eigener Entscheidungszuständigkeit auf die andere Rechtsnorm übertragen. Dies hat unlängst der BFH in seinem Urteil vom 1. Juni 2004 IX R 35/04 BStBl. II 2005, 26 ebenso entschieden, in dem er unter Übertragung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 22 Nr. 3 EStG a.F. auf § 23 Abs. 4 S. 3 EStG in der bis 1993 geltenden Fassung in verfassungskonformer Auslegung das Verlustausgleichs- und -abzugsabverbot ohne Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nicht angewandt hat.