Flüchtlingsanerkennung für allein stehende irakische Frau mit westlichem Lebensstil wegen Gefahr von nichtstaatlichen Übergriffen.
Flüchtlingsanerkennung für allein stehende irakische Frau mit westlichem Lebensstil wegen Gefahr von nichtstaatlichen Übergriffen.
(Leitsatz der Redaktion)
Das Gericht geht in Anwendung der vorstehenden Rechtsmaßstäbe und im Hinblick auf die faktische Situation im Heimatland der Klägerin davon aus, dass ihr nach der Ausreise in den Irak dort heute geschlechtsspezifische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würde.
Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf eine Ausländerin in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in der ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht ist. Durch die Neuregelung in § 60 Abs. 1 AufenthG wird (im Gegensatz zum ehemals geltenden § 51 Abs. 1 AuslG) klargestellt, dass bereits die Anknüpfung von Verfolgungshandlungen allein an das Geschlecht schon das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllt und damit "asylrelevant" sein kann. Geschlechtsspezifische Verfolgung - sei es von Seiten staatlicher Stellen oder von Seiten Privater - sind danach insbesondere die Entrechtung von Frauen, insbesondere durch sexuelle Gewalt bis hin zu ritueller Tötung. Geschützt sind ebenfalls Frauen, die Verfolgung befürchten müssen, weil sie mit der selbstgewählten (westlich-orientierten) Lebensweise, die Ausdruck ihres allgemeines Freiheitsrechtes im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG ist, kulturelle oder religiöse Normen - insbesondere Vorschriften über Kleidung oder das Auftreten in der Öffentlichkeit - übertreten würden oder sich diesen nicht beugen wollen.
Das Gericht ist nach Auswertung der insoweit vorliegenden Erkenntnismittel (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.06.2005; "Mord im Namen der Ehre", Entwicklung und Hintergründe von Ehrenmorden - eine in Kurdistan verbreitete Form der Gewalt gegen Frauen, Hrsg.: Internationales Zentrum für Menschenrechte der Kurden - IMK e.V. -; UNHCR: Situation von Frauen im Irak, April 2005 davon überzeugt, dass die Klägerin im Irak wegen ihrer Lebensweise geschlechtsspezifische Verfolgung landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hätte.
Die Klägerin ist - wovon sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck verschafft hat - in nahezu allen Belangen des Lebens "westlich" orientiert. Sie lehnt ein Leben nach islamisch geprägten traditionellen Sitten und Gebräuchen ab. Die Situation einer alleinstehenden jungen Frau im Irak, die sich den dort herrschenden Moral- und Lebensvorstellungen nicht anpassen will, ist mehr als prekär (vgl. UNHCR. a.a.O., insbesondere dort Ziffer 4.). Alleinstehende Frauen haben zunehmend unter gewalttätigen Repressionen zu leiden. Ohne Schutz eines Mannes oder der eigenen Familie ist unter Berücksichtigung der ohnehin schlechten Sicherheitsbedingungen innerhalb kürzester Zeit mit Bedrohungen, Belästigungen und Angriffen zu rechnen. Die geschlechtsspezifische Benachteiligung von Frauen, die ohnehin in der orientalischen Tradition wurzelt, hat durch die religiös-extremistischen muslimischen Bestrebungen eine neue Dimension bekommen. Diese Verschlechterung der Situation bekommen Frauen, die sich schon äußerlich nicht den Landesgewohnheiten anpassen, ganz besonders zu spüren (vgl. Lagebericht, a.a.O., dort Ziffer 6 a. E.). Eine Frau, die sich außerhalb christlicher Viertel in Bagdad oder Mosul unverschleiert in die Öffentlichkeit begibt, wird nach Überzeugung des Gerichts mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb kürzester Zeit Opfer eines Angriffs (UNHCR, a.a.O.). Von staatlicher Seite hätte die Klägerin bei der Abwehr derartiger Übergriffe keinerlei Unterstützung zu erwarten (vgl. Lagebericht, a.a.O.). Außerdem führt die hohe Arbeitslosigkeit im Irak dazu, dass eine alleinstehende Frau so gut wie keine Aussicht hat, ein eigenes Einkommen erwirtschaften zu können (vgl. Lagebericht, a.a.O., Ziffer 3). Hinzu kommt, dass die Klägerin seit über 13 Jahren in Deutschland - mittlerweile nicht mehr bei ihren Eltern, sondern in einer eigenen Wohnung - lebt und hier insbesondere durch ihre Ausbildung und Arbeit in die bundesdeutsche Gesellschaft voll eingegliedert ist. Sie spricht akzentfrei Deutsch, kleidet sich nach hiesigen Vorstellungen und hat insgesamt einen westlichen Lebensstil angenommen. Nach Überzeugung des erkennenden Einzelrichters hätte sie angesichts der geschilderten Situation im Irak, insbesondere für die westlich orientierte weibliche Bevölkerung, keine Chance, dort zu leben bzw. menschenwürdig zu überleben.