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VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2006 - 24 L 2122/05 - asyl.net: M7895
https://www.asyl.net/rsdb/M7895
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Assoziationsberechtigte, Türken, Rechtsmittel, Zweckmäßigkeit, Ermessen, Haft, dringender Fall, Ermessensausweisung, Vergewaltigung, häusliche Gewalt, besonderer Ausweisungsschutz, in Deutschland geborene Kinder, Schutz von Ehe und Familie, Befristung, Wirkungen der Ausweisung, Wiederholungsgefahr, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3; AufenthG § 55; AufenthG § 53; AufenthG § 56 Abs. 1; GG Art. 6; EMRK Art. 8; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3; FreizügG/EU § 7 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

1. Die Ausweisung des Antragstellers ist bis zum 29. April 2006 offensichtlich rechtswidrig. Solange verstößt sie gegen die europarechtliche Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG, welche nicht nur auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger, sondern auch auf aus dem ARB 1/80 Assoziationsberechtigte unmittelbar anwendbar ist (vgl. EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005, Rs. C-136/03, Dörr und Ünal, InfAuslR 2005, 289, Rn. 61-69; BVerwG, Urteile vom 13. September 2005 - 1 C 7.04 - und vom 6. Oktober 2005 - 1 C 5.04 -).

Bei der Ausweisung des Antragstellers samt Abschiebungsandrohung handelt es sich um eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet i.S.d. Art. 9 Abs.1 der Richtlinie 64/221/EWG. Die hiergegen gegebenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsbehelfe der Anfechtungsklage und des Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs erlauben nur eine Prüfung der Gesetzmäßigkeit der Entscheidung, nicht ihrer Zweckmäßigkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. September 2005 - 1 C 7.04 -, Rn. 13), und eine aufschiebende Wirkung des Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs liegt nach § 80 Abs. 5 VwGO im Ermessen des Gerichts, was den Anforderungen des Art. 9 Abs.1 der Richtlinie 64/221/EWG an eine automatisch eintretende aufschiebende Wirkung mit Einlegung des "Rechtsmittels" nicht entspricht (vgl. EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005, Rs. C-136/03, Dörr und Ünal, a.a.O., Rn. 50-52).

Hier lag auch kein dringender Fall i.S.d. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vor.

Das Tatbestandsmerkmal des dringenden Falles ist als Ausnahmeregelung von der assoziationsrechtlichen Freizügigkeit besonders eng auszulegen und es genügt nicht, dass die Behörde (rechtmäßig) die sofortige Vollziehung angeordnet hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005, Rs. C-136/03, a.a.O., Rn. 56, BVerwG, Urteile vom 13. September 2005 - 1 C 7.04 -, Rn. 15-19 und vom 6. Oktober 2005 - 1 C 5.04 -, Rn. 14).

Ein dringender Fall kommt nur dann in Betracht, wenn eine Verzögerung der Vollziehung der Ausweisung durch die Einschaltung einer zweiten Behörde im Einzelfall nicht zu verantworten ist, weil die begründete Besorgnis besteht, dass sich ansonsten eine von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr verwirklicht. Ob dies der Fall ist, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls durch Abwägung der konkreten widerstreitenden öffentlichen und privaten Belange zu entscheiden. Solange sich der Ausländer in Haft befindet, wird eine erhebliche Gefahr in der Regel fehlen. Ein dringender Fall i.S.d. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG kommt zwar in Frage, wenn der Ausländer wie hier aus der Haft heraus abgeschoben werden soll und die Behörde von der Anordnung der sofortigen Vollziehung unverzüglich Gebrauch macht (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. September 2005 - 1 C 7.04 -, Rn. 17-19).

2. Die Ausweisung des Antragstellers ist ab dem 30. April 2006 (b) ebenso wie die Anordnung der sofortigen Vollziehung (a) offensichtlich rechtmäßig und es besteht dann auch ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse (c).

aa) Sie steht mit dem deutschen (1) und dem europäischen (2) formellen Recht in Einklang.

(2) Auch die ab dem 30. April 2006 geltenden europarechtlichen Verfahrensvorschriften sind eingehalten.

Die u.a. die Richtlinie 64/221/EWG ersetzende Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, enthält unabhängig von der Frage, ob alle ihre Vorschriften auch auf nach dem ARB 1/80 Berechtigte entsprechend anwendbar sind (vgl. EuGH, Urteile vom 11. November 2004, Rs. C-467/02, Cetinkaya, a.a.O., Rn. 42 f., und vom 2. Juni 2005, Rs. C-136/03, Dörr und Ünal, a.a.O. Rn. 62 f.; OVG NRW, Beschluss vom 2. Dezember 2005 - 18 B 1529/05 -) keine speziellen Vorschriften in Bezug auf vor Erlass einer Ausweisung zu erfüllende Verfahrensschritte oder Formalitäten.

bb) Die Ausweisung steht auch materiellrechtlich mit dem deutschen (1) und europäischen Recht (2) in Einklang.

(1) Der Erlass der Ausweisungsverfügung ist in Anwendung der Ermessensvorschrift des § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 2 AufenthG (a) unter Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (b) materiell rechtmäßig.

(a) Der Antragsgegner hat § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 2 AufenthG ermessensfehlerfrei angewandt.

Der Antragsteller hat durch die mit dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts X vom 15. Juni 2004 mit einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten geahndete, in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 2004 begangene Vergewaltigung einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen, der zudem einen sogenannten Ist-Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG darstellt.

Zwar genießt der Antragsteller nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz wegen seines zum Zeitpunkt der Ausweisung seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig bestehenden Aufenthalts und auf Grund seiner jedenfalls bis zur Inhaftierung geführten familiären Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Tochter, so dass er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden durfte.

Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen hier jedoch vor. In den Fällen des § 53 AufenthG liegen diese Gründe in der Regel vor und der Ausländer wird in der Regel ausgewiesen (§ 56 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG). Hier besteht ein solcher Regelfall, nicht jedoch atypische, besondere Umstände, welche es gebieten würden, von einem Ausnahmefall auszugehen und schwerwiegende Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu verneinen.

Dies ist hier der Fall. Zwar handelte es sich bei der Vergewaltigung um eine Beziehungstat und es dürfte nicht wahrscheinlich sein, dass der Antragsteller nach seiner Entlassung aus der Strafhaft versuchen wird, zu seinem Opfer erneut eine Beziehung aufzubauen.

Der Antragsteller hat das Opfer aber nicht nur während der Straftat, sondern bereits in den Monaten zuvor nach den glaubhaften Aussagen des Opfers, seiner Mutter und seiner Freundin häufig bedroht und mehrfach geschlagen. Dies beweist, dass es sich bei der abgeurteilten Tat nicht um eine nur einmalige Verletzung der körperlichen und psychischen Gesundheit des Opfers im Sinne eines Ausnahmefalls handelte. Angesichts der Häufigkeit und Intensität der Demütigungen und Bedrohungen des Opfers durch den Antragsteller vermag die Kammer nicht zu erkennen, dass auch mehr als zwei Jahre nach der abgeurteilten Tat nicht eine Gefahr erneuter Rechtsgutverletzungen besteht im Sinne einer schweren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Antragsteller gegenüber dem Opfer, wenn diese sich nach einer Haftentlassung des Antragstellers erneut begegnen.

Die Ermessensausübung des Antragsgegners ist rechtlich nicht zu beanstanden.

Bei einer wie hier begangenen schweren Straftat besteht jedoch auch für in Deutschland geborene und aufgewachsene Ausländer kein absoluter Ausweisungsschutz (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, InfAuslR 2004, 280 = NVwZ 2004, 852; OVG NRW, Beschluss vom 1. August 2005 - 18 B 2453/04 - m.w.N.).

Vielmehr bleibt es eine Frage der konkreten Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden öffentlichen und privaten Interessen, die der Antragsgegner hier angesichts der Schwere der begangenen Vergewaltigung, ihrer vor allem psychischen Folgen für das Opfer und einer ansonsten erneut drohenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch den Antragsteller ermessensfehlerfrei vorgenommen hat.

Dem steht die deutsche Staatsangehörigkeit der dreijährigen Tochter ebenso wenig entgegen, wie der Besitz einer Niederlassungserlaubnis seitens der Ehefrau und des sechsjährigen Sohnes des Antragstellers. Diesen kann auf Grund des beschriebenen schwerwiegenden Fehlverhaltens des Antragstellers und der fortdauernden Gefährdungslage ein Zusammenleben mit dem Antragsteller in Deutschland jedenfalls auf absehbare Zeit nicht ermöglicht werden.

Insbesondere lebte die Ehefrau des Antragstellers bis Dezember 1998 in der Türkei.

Was die familiären Bindungen des Antragstellers zu seinen in Deutschland lebenden Eltern und Geschwistern betrifft, ist zu beachten, dass dem Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK im Verhältnis zwischen volljährigen Kindern und ihren Eltern und Geschwistern erheblich weniger Gewicht zukommt als im Verhältnis zwischen Ehegatten und zwischen Eltern und minderjährigen Kindern. Dies gilt insbesondere, wenn wie hier die Volljährigkeit seit mehreren Jahren erreicht ist. Insoweit ist der Verweis auf briefliche, telefonische, elektronische und Besuchskontakte zumutbar.

(b) Die Ausweisungsverfügung ist auch mit der in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes gültigen EMRK, insbesondere mit deren Art. 8, welcher das Recht auf Privat- und Familienleben verbürgt, und der diesbezüglichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, a.a.O.) vereinbar.

Auch die Tatsache, dass die Ausweisung jedenfalls zunächst auf unbefristete Zeit ausgesprochen worden ist, ist rechtmäßig.

Denn § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sieht keine bereits mit der Ausweisung ergehende, sondern eine nachträgliche, erst auf Antrag des Ausgewiesenen erfolgende Befristung vor (s. BVerwG, Urteil vom 11. Juni 1996 - 1 C 24.94 -, InfAuslR 1997, 8; Beschluss vom 10.Dezember 1993 - 1 B 160.93 -, InfAuslR 1994, 101).

§ 7 Abs. 2 Satz 2 FreizüG/EU, wonach das Verbot der Einreise und des Aufenthalts eines Unionsbürgers bereits bei der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts zu befristen ist (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 7 FreizüG/EU, Rn. 3-5), findet gemäß § 1 FreizüG/EU auf aus dem ARB 1/80 Berechtigte keine Anwendung, da diese keine Unionsbürger sind und eine entsprechende Anwendung weder gemeinschafts- noch verfassungsrechtlich geboten ist (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 16. März 2005 - 18 B 1751/04 -, InfAuslR 2005, 245 = EZAR NF 19 Nr. 7, und vom 2. Dezember 2005 - 18 B 1529/05 -; Hessischer VGH, Beschluss vom 29. Dezember 2004 - 12 TG 3649/04 -, EZAR NF 019 Nr. 6 = DVBl. 2005, 320).

(2) Die Ausweisung ist auch mit dem europäischen materiellen Recht vereinbar.

Das zum Zeitpunkt der Ausweisung nicht nur auf deutschem Recht, sondern auch auf Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich und Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 beruhende Aufenthaltsrecht des Antragstellers stand nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 unter dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit.

Voraussetzung für die Ausweisung eines über Rechte aus dem ARB 1/80 verfügenden türkischen Staatsangehörigen ist danach, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Damit sind generalpräventiv begründete Ausweisungen unzulässig, es bedarf vielmehr einer hinreichenden individuellen Wiederholungsgefahr, wobei alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen sind (vgl. EuGH, Urteile vom 26. Februar 1975, Rs. 67/74, Bonsignore, Rn. 5 ff., vom 19. Januar 1999, Rs. C-348/96, Calfa, Rn. 25; vom 11. November 2004, Rs. C- 467/02, Cetinkaya, a.a.O., Rn. 36, 44, und vom 7. Juli 2005, Rs. C-373/03, Aydinli, a.a.O.Rn. 27; BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - 1 C 29.02 -, BVerwGE 121, 315 = InfAuslR 2005, 26).

Bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr hängen die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts vom Schutzbedürfnis des gefährdeten Rechtsguts und von der Größe der drohenden Schäden ab (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - 1 C 29.02 -, a.a.O.; OVG NRW, Urteil vom 17. März 1998 - 18 A 4002/96 -, InfAuslR 1998, 236).

Eine Beschränkung der Ausweisungsgründe auf Gründe der öffentlichen Sicherheit enthält zwar Art. 28 Abs. 3 der bis zum 30. April 2006 von den EU-Mitgliedstaaten umzusetzenden RL 2004/38/EG. Danach darf eine Ausweisung von Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben, nur noch aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, verfügt werden.

Unabhängig davon, dass die RL 2004/38/EG vor Ablauf der am 30. April 2006 endenden Umsetzungsfrist gegenwärtig keine Vorwirkung entfaltet, da die Anwendung des derzeit noch geltenden Rechts nicht die Beachtung der Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist verhindert (vgl. VGH BW, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 3 S 358/05 -, NVwZ 2005, 1098 = EZAR NF 062 Nr. 1; Kammer, Urteil vom 10. November 2005 - 24 K 7487/03 -; offenlassend OVG NRW, Beschluss vom 2.Dezember 2005 - 18 B 1529/05 -), kann sich der Antragsteller auch nach Ablauf der Umsetzungsfrist nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung nicht auf Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG berufen.

Eine unmittelbare Anwendung scheitert schon daran, dass diese Vorschrift nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur für Unionsbürger gilt. Auch eine entsprechende Anwendung auf ARB-Berechtigte dürfte ausscheiden (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschlüsse vom 5. Oktober 2005 - 11 ME 247/05 -, DVBl. 2006, 64, und vom 6. Juni 2005 - 11 ME 39/05 -, NVwZ-RR 2005, 654; a.A. Gutmann, InfAuslR 2005, 402 f.; offenlassend OVG NRW, Beschluss vom 2. Dezember 2005 - 18 B 1529/05 -; widersprüchlich GK-Aufenthaltsrecht, Bd. 5, IX-1 Art. 14 Rn. 22, 56).