VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 26.01.2006 - A 16 K 11034/05 - asyl.net: M7899
https://www.asyl.net/rsdb/M7899
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Staatsangehörige von Sierra Leone wegen nichtstaatlicher Verfolgung durch Geheimbünde nach öffentlicher Kritik an Genitalverstümmelung; keine inländische Fluchtalternative in Freetown.

 

Schlagwörter: Sierra Leone, Genitalverstümmelung, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Geheimgesellschaft, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Freetown, interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Versorgungslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Staatsangehörige von Sierra Leone wegen nichtstaatlicher Verfolgung durch Geheimbünde nach öffentlicher Kritik an Genitalverstümmelung; keine inländische Fluchtalternative in Freetown.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin hat jedoch Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Das Gericht ist der Überzeugung, dass trotz der Ungereimtheiten bei der Darstellung des Einreisewegs, die weiteren Angaben der Klägerin zu ihrer Zwangsbeschneidung und der daraus resultierenden Bedrohungen nach deren öffentlichen Einsatz gegen die Zwangsbeschneidungen, der Wahrheit entsprechen.

In den vom Gericht in diesem Verfahren eingeholten Auskünfte und Stellungnahmen wird bestätigt, dass es in Sierra Leone tatsächlich - wie von der Klägerin behauptet - Geheimgesellschaften gibt, welche die Erhaltung und Pflege traditioneller Kultur und Rituale betreiben. Zu den wichtigsten Tätigkeiten dieser Geheimgesellschaften zählt es, männliche und weibliche Kinder und Jugendliche auf den Eintritt in die Gesellschaft der Erwachsenen vorzubereiten. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden werden Initiationsriten praktiziert, denen sich die nachwachsenden Generationen gemäß Werte- und Normenkatalog der traditionellen Gesellschaft zu unterwerfen haben. Hierbei handelt es sich um einen kulturellen Zwang, dem im Einzelfall auch durch physischen Zwang nachgeholfen wird. Für Frauen und Mädchen bedeutet der Weg zum Erwachsenwerden, dass sie sich unter meist verheerenden hygienischen und medizinischen Bedingungen dem Ritual der Beschneidung auszusetzen haben, einer schmerzhaften, häufig mit erheblichem Blutverlust, Verschmutzungen, Komplikationen und Spätfolgen verbundenen Eingriff an den weiblichen Genitalien (so Institut für Afrika-Kunde, Auskunft v. 07.11.2005). Dieser Eingriff bereitet Mädchen bzw. Frauen rituell auf das Erwachsenenleben, Heirat, Ehe und Mutterschaft vor. In internationalen Gegenkampagnen wird die Beschneidung unter dem Begriff "Female Genital Mutilation" (FGM) zusammengefasst, der im Deutschen etwas unglücklich "weibliche Genitalverstümmlung" heißt (so Institut für Afrika-Kunde a.a.O.). Auch das Auswärtige Amt bestätigt in der vom Gericht in diesem Verfahren eingeholten Auskunft vom 02.11.2005 die Existenz von Frauenorganisationen "Bondo und Sowee-Society" in Sierra Leone, deren Hauptziel und Entstehungsgrund die Zwangsbeschneidung junger Mädchen und Frauen ist.

Nachdem die Klägerin bereits wegen eines menschenrechtswidrigen Eingriffs in ihre körperliche Unversehrtheit der an ihr Geschlecht anknüpfte, i.S.v. § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG verfolgt worden ist, kommt ihr bei der Prüfung, ob ihr bei einer Rückkehr erneut eine asylerhebliche Verfolgung droht, der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugute. Danach ist Abschiebungsschutz nicht erst dann zu gewähren, wenn eine Wiederholung der Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, sondern bereits dann, wenn eine solche Wiederholung nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Dies ist im Falle der Klägerin anzunehmen.

Zwar sind dem Auswärtigen Amt (Auskunft vom 02.12.2005) keine Fälle bekannt geworden, bei denen zurückkehrende zwangsbeschnittene Frauen in der Hauptstadt Freetown etwas zu befürchten hatten, auch dann nicht, wenn sie sich einer der die Zwangsbeschneidung kritisierenden Organisationen angeschlossen hatten. Das Institut für Afrika-Kunde sieht jedoch in seiner gutachterlichen Stellungnahme a.a.O. die Situation für die Frauen in Sierra Leone etwas differenzierter. Unstrittig hätten in Sierra Leone die Geheimgesellschaften für den Lebensalltag und die Lebenswelt der Menschen in dem Bereich der traditionellen Kultur erhebliche Bedeutung. Diese Gesellschaften würden nicht nur Foren bilden, in denen Verletzungen stattfinden, sondern als Organisation von Mädchen und Frauen auch Zusammenhalt, Schutz und Geborgenheit bieten. Es gebe Indizien dafür, dass derartige Geheimgesellschaften Anstrengungen unternehmen, abtrünnige und/oder flüchtige Angehörige aus ihrem kulturellen Umfeld auszuspüren, um sie zur Rechenschaft zu ziehen und verweigerte FGM zwangsweise nachzuholen.

Die von der Klägerin geäußerten Befürchtungen sind daher keinesfalls haltlos. Sie hat bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt und nochmals im Termin der mündlichen Verhandlung detailliert dargelegt, auf welche Weise sie sich aktiv gegen die zwangsweise Durchführung von Beschneidungen eingesetzt hat. So hat sie erst auf öffentlichen Veranstaltungen "Recht der Jugend" über das ihr widerfahrene Schicksal berichtet und sich gegen diese Art der Genitalverstümmelung ausgesprochen. Dass die Ausführungen der Redner bei derartigen Veranstaltungen auf Kassetten aufgenommen und später im Rundfunk wiedergegeben werden ist zumindest nahe liegend. Dass die Klägerin deshalb später im Rundfunk ("City Radio") nochmals zur Problematik der Zwangsbeschneidungen Stellung nehmen sollte, erscheint glaubhaft. Damit ist die Klägerin nach Überzeugung des Gerichts nicht nur als "anonyme" Zwangsbeschnittene aus ihrer Heimat ausgereist, sondern als Frau, die, nachdem sie die menschenrechtswidrige Behandlung am eigenen Körper erfahren hat, sich aktiv und öffentlich gegen diese Art von zwangsweisen Verstümmelungen ausgesprochen und eingesetzt hat.

Die Klägerin wäre nach Überzeugung des Gerichts deshalb bei einer Rückkehr nach Freetown nicht hinreichend sicher vor Verfolgungsmaßnahmen i.S.d. § 60 Abs. 1 S. 4 c AufenthG. Das Gericht stimmt mit dem Institut für Afrika-Kunde (Auskunft v. 07.11.2005) darin überein, dass die Klägerin bei einer Rückkehr keine hinreichende Sicherheit vor Übergriffen durch traditionelle Zwangsbeschneidungen pflegende Geheimgesellschaften finden würde. Mit dem Institut für Afrika-Kunde (aaO) ist angesichts der Realitäten in Sierra Leone stark zu bezweifeln, ob es gelingen kann in einer Stadt wie Freetown "unterzutauchen", um sich gegenüber Zwangseingriffen durch interessierte Kreise aus dem Bereich der eigenen Kultur in Sicherheit zu bringen. In der Stadt leben infolge beträchtlicher Binnenmigration, die durch den jahrelangen Krieg noch verstärkt wurde, alle Bevölkerungsgruppen, die in den verschiedenen Landesteilen vorkommen. Unter diesen Bedingungen laufen unter Angehörigen verschiedener Gruppen informelle Informationsflüsse, die z. B. zum Gegenstand haben, wo sich bestimmte gesuchte Angehörige dieser Gruppe aufhalten. Wenn eine einzelne Person in den Besitz dieser Information gelangt, verbreitet sich diese in der Regel wie ein Lauffeuer. Angesichts solcher Verhältnisse erscheint es ausgeschlossen, dass die Rückkehr einer Person unbemerkt bleibt. Wenn diese Person dann von Angehörigen ihrer eigenen Kultur gestellt wird und sich dafür rechtfertigen muss, sich von den Normen- und Wertesystemen dieser Kultur abgewandt zu haben, ist die Gefahr von Übergriffen gegen Leib und Leben groß.

Dies bedeutet im konkreten Fall für die junge 17-jährige Klägerin, dass sie ohne die Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative und nicht geschützt durch den schutzunwilligen sierraleonischen Staat (so Institut für Afrika-Kunde a.a.O. Ad 5) bei einer Rückkehr wegen ihrer Einstellung von den Frauengemeinschaften diskriminiert, angefeindet und möglicherweise existenziell bedroht werden könnte.