LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.12.2005 - L 7 AY 51/05 - asyl.net: M7907
https://www.asyl.net/rsdb/M7907
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, freiwillige Ausreise, Duldung, Erlass, Abschiebungsstopp, Serbien und Montenegro, Kosovo, Ashkali
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; AsylbLG § 1a; RL 2003/9/EG Art. 16
Auszüge:

Nach § 2 AsylbLG ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monate Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Die mit Wirkung ab 1. Januar 2005 in Kraft getretene Neuregelung des § 2 Abs. 1 (Art. 8 Nr. 3 des Gesetzes vom 30.07.2004 - BGBl I 1950) knüpft hinsichtlich der Bestimmung über die Folgen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens an die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten an (Amtsblatt der Europäischen Union vom 06.02.2003 - L 31/18). In Art. 16 der Richtlinie, der die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile regelt, werden Formen von "negativem Verhalten" zusammengefasst, die auf nationaler Ebene eine Einschränkung der Leistungen erlauben (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 10.01.2003 zu der Neuregelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG - BR-Drucks 22/03 S. 296). Sinn dieser Änderung des AsylbLG ist es, den Anreiz zur missbräuchlichen Asylantragstellung weiter einzuschränken, was schließlich zu einer Reduzierung der Anträge und damit insgesamt zu einer Verfahrensbeschleunigung führen soll (Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 10.01.2003, aaO, S. 295).

Insbesondere aus dem Wortlaut der Regelung aber auch aus ihrem o. g. Zweck ist zu schließen, dass es dabei auf die gesamte Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet und nicht etwa nur auf die Dauer des Aufenthalts nach rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrags ankommt (so bereits der Beschluss des Senats vom 19.08.2005 - L 7 AY 12/05 ER -).

Die Kläger haben die Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst im Sinn des § 2 Abs. 1 AsylbLG. Der Aufenthalt der Kläger in Deutschland wurde geduldet, weil sie zu den Angehörigen der Minderheit der Ashkali gehören (vgl. Rd. Erlasse des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 25.06.und 23.09.2004).

Der Umstand, dass die Kläger sich weigern, von der nach Auffassung der Ausländerbehörde bestehenden freiwilligen Ausreisemöglichkeit Gebrauch zu machen, beeinflusst zwar die Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland. Dies geschieht indes nicht in rechtsmissbräuchlicher Weise.

Im Asylbewerberleistungsgesetz sind die Voraussetzungen, unter denen rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinn des § 2 Abs. 1 AsylbLG anzunehmen ist, nicht ausdrücklich geregelt. Daher ist der in der Regelung des § 242 BGB niedergelegte und das gesamte Rechtsleben beherrschende Grundsatz, dass jedermann in Ausübung seiner Rechte und Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln hat (Palandt/Heinrichs, § 242 Rdnr. 1 m. w. Nachw.) für die Auslegung des Begriffs des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Sinn der genannten Regelung nutzbar zu machen. Treu und Glauben bilden eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung. Die gegen § 242 BGB verstoßende Rechtsausübung oder Ausnutzung einer Rechtslage ist als Rechtsüberschreitung missbräuchlich und unzulässig. Der Rechtsmissbrauch kann dabei individuell oder institutionell erfolgen. Welche Anforderungen sich aus Treu und Glauben ergeben, lässt sich nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls entscheiden.

Ob ein Verhalten eines Ausländers als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts zu werten ist, ist demnach unter Berücksichtigung des Zwecks der Regelung zu entscheiden. Weil die Regelung nach dem offenkundigen Willen des Gesetzgebers die Regelung des Art. 16 der "Richtlinien" umsetzen soll, ist diese zur Auslegung des § 2 Abs. 1 AsylbLG heranzuziehen (Hohm, Leistungsrechtliche Privilegierung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG S. 2005, NVwZ 2005 S. 388 f, 389); dies gilt nach Auffassung des Senats auch hinsichtlich der Leistungsberechtigten, deren Asylverfahren bereits abgeschlossen ist, wie dies bei den Klägern der Fall ist. Nach Art. 16 Abs. 1 Buchst a) können die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile einschränken oder entziehen, wenn ein Asylbewerber ohne Genehmigung der zuständigen Behörde seinen zugewiesenen Aufenthaltsort verlässt, seinen Melde- und Auskunftspflichten nicht nachkommt oder wenn er im gleichen Mitgliedstaat bereits einen Antrag gestellt hat. Daraus ist zu schließen, dass ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinn des § 2 Abs. 1 AsylbLG immer dann anzunehmen ist, wenn das Verhalten erkennbar der Verfahrensverzögerung und somit der Aufenthaltsverlängerung dient, wobei es im Hinblick auf den Zweck der Regelung, missbräuchliche Asylantragstellungen einzuschränken, auf die generelle Eignung des zu beanstandenden Verhaltens zur missbräuchlichen Beeinflussung des Aufenthalts ankommt.

Weitere Auslegungskriterien für die Entscheidung der Frage rechtsmissbräuchlichen Verhaltens sind unter rechtssystematischen Gesichtspunkten zudem der Regelung des § 1 a AsylbLG zu entnehmen. Diese Regelung sieht Leistungseinschränkungen im Falle leistungsmissbräuchlicher Einreiseabsichten und missbräuchlicher Verhinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen aus vom Leistungsberechtigten zu vertretenden Gründen vor (Hohm, a.a.O., 390).

Dies zugrunde gelegt, ist der Verzicht der Kläger auf eine freiwillige Ausreise nicht als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer ihres Aufenthalts zu werten. Zwar sind die Kläger zur Ausreise verpflichtet, weil sie keinen Aufenthaltstitel besitzen (§ 50 Aufenthaltsgesetz). Durch die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) ist es den Klägern jedoch erlaubt, sich - vorübergehend - trotz bestehender Ausreisepflicht in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten, weil der Vollzug der Ausreisepflicht zeitweilig ausgesetzt ist. Die Kläger haben aufgrund der Duldung eine wenn auch unsichere Rechtsposition erlangt. Unter Duldung ist daher ausländerrechtlich mehr als nur die durch tatsächliches Verwaltungshandeln zum Ausdruck gelangte Billigung eines rechtswidrigen Zustands zu verstehen (Renner, Ausländerrecht, 8. A. 2005, § 60a Rdnr. 12ff). Allein die Nutzung dieser Rechtsposition, wie dies die Kläger tun, kann ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht begründen, wenn die Dauer des Aufenthalts nicht auf rechtlich oder tatsächlich zu beanstandendem Verhalten des Ausländers beruht. Hierfür bestehen im Fall der Kläger keine Anhaltspunkte. Anders läge es z. B. dann, wenn der Aufenthalt aufgrund falscher Angaben im Asylverfahren oder die nicht eingehaltene Zusage, freiwillig ausreisen zu wollen, verlängert worden oder die Frist für die Aussetzung der Abschiebung bereits abgelaufen wäre. Dies ist hier indes nicht der Fall.

Legt man die in Art. 16 Abs. 1 a der "Richtlinien" genannten Voraussetzungen für die Einschränkung oder Entziehung der gewährten Vorteile als Auslegungskriterien zugrunde, das heißt Verstöße gegen Aufenthalts-, Melde- und Auskunftspflichten, gelangt man zum gleichen Ergebnis.