VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 10.02.2006 - 17 K 2027/04 - asyl.net: M7916
https://www.asyl.net/rsdb/M7916
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, subsidiärer Schutz, Ausschlussgründe, Ausreisemöglichkeit, Zumutbarkeit, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Krankheit, Abschiebungshindernis, psychische Erkrankung, Suizidgefahr, Serbien und Montenegro, Kosovo, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Bindungswirkung, Zuwanderungsgesetz, Sozialhilfe
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Die auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Klägerin gerichtete Verpflichtungsklage ist zulässig und begründet.

Die Klägerin erfüllt die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat die Bundesrepublik Deutschland - Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - durch Urteil vom 03.06.2004 (Az.: A 1 K 10919/02) verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin hinsichtlich Marokkos die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG vorliegen. Damit - bzw. mit dem dem Verpflichtungsurteil entsprechenden, zwischenzeitlich erlassenen Bescheid des Bundesamts - steht auch fest, dass in Bezug auf Marokko die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen. Somit liegen im Fall der Klägerin auch die Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 AufenthG in Bezug auf Marokko vor. Die Bindungswirkung der zu § 53 Abs. 6 AuslG ergangenen Entscheidung erstreckt sich auch auf die Rechtslage nach Inkrafttreten des AufenthG ab 01.01.2005.

Es liegt auch kein Ausschlusstatbestand nach § 25 Abs. 3 S. 2 AufenthG vor. Danach wird die Aufenthaltserlaubnis insbesondere dann nicht erteilt, wenn die Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar ist. Als "anderer Staat" kommt hier nur Serbien und Montenegro in Betracht - der Herkunftsstaat des Ehemanns der Klägerin -, da nicht ersichtlich ist, dass die Klägerin in einen sonstigen Staat ausreisen könnte. Nach den Feststellungen der Ausländerbehörde mag die Ausreise der Klägerin - zusammen mit ihrem Ehemann - nach Serbien und Montenegro (Kosovo) möglich sein; sie ist jedoch für sie nicht zumutbar.

Es kann bei der Beurteilung der Frage der Zumutbarkeit unberücksichtigt bleiben, inwiefern im Falle der Klägerin in Bezug auf die anvisierte Ausreise nach Serbien und Montenegro (Kosovo) ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis vorliegt bzw. ob und inwiefern lediglich ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis (aufgrund der Suizidgefährdung im Falle einer Abschiebung) angenommen werden könnte. Denn für die Frage der Zumutbarkeit i.S.d. § 25 Abs. 3 S. 2 AufenthG kommt es auf eine alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigende Beurteilung an und nicht lediglich auf die Frage, ob einer Abschiebung ein rechtliches oder tatsächliches Hindernis i.S.d. § 60 a Abs. 2 AufenthG bzw. des § 60 Abs. 7 AufenthG entgegensteht. Hinsichtlich der Frage der Zumutbarkeit ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin nach Auskunft der sie behandelnden Ärztinnen fast ein Jahr benötigt hat, um eine ausreichende Vertrauensbasis zu den Therapeuten aufzubauen. Vor allem aber ist zu berücksichtigen, dass die erforderliche Fortsetzung der begonnenen Psychotherapie im Kosovo nach der bestehenden Auskunftslage (vgl. Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 30.08.2005) nicht gesichert wäre. Denn im Kosovo bestehen erhebliche Engpässe bei der ambulanten psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung, ganz abgesehen von der Frage, aus welchem Einkommen die im Kosovo nicht versicherte Klägerin die Kosten einer derartigen Therapie bestreiten könnte. Die Zahl der im öffentlichen Gesundheitswesen praktizierenden Fachärzte für Psychiatrie und Neurologie wird in dem genannten Lagebericht mit ca. 30 für den Kosovo angegeben. Zwar gibt es dort nach dem Lagebericht auch privat praktizierende Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten; jedoch besteht gerade im privaten Sektor die Frage der Finanzierbarkeit. Von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Zumutbarkeit einer Ausreise nach Serbien und Montenegro (Kosovo) ist aber, dass die Klägerin nicht albanisch spricht - der Ehemann ist ebenfalls kein Albaner, sondern ein sogenannter Bosniake (bosnischer Muslim) -, und dass es somit - jedenfalls für längere Zeit - praktisch unmöglich wäre, eine angemessene Psychotherapie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland begonnen worden ist, Serben und Montenegro (Kosovo) fortzusetzen.

Da die Klägerin weiterhin auf eine medikamentöse Behandlung angewiesen ist stellt sich auch hier die Kostenfrage. Da die Klägerin in Serbien und Montenegro (Kosovo) nicht versichert ist, ebenso nicht ihr Ehemann, und da nicht zu erwarten ist, dass sie oder ihr Ehegatte nach einer Rückkehr alsbald bezahlte Arbeit finden werden, könnten die Kosten für Medikamente allenfalls durch Sozialhilfe finanziert werden. Diese wird im Kosovo jedoch nur in einem minimalen Umfang gewährt (vgl. UNHCR v. 29.06.2004 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes) und reicht zum Lebensunterhalt regelmäßig nicht aus, somit erst recht nicht zur Beschaffung der relativ teuren, von der Klägerin benötigten Medikamente.

Da die Ausreise der Klägerin nach Serbien und Montenegro zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zumutbar ist, kommt es nicht darauf an, ob sie wiederholt oder gröblich gegen entsprechende Mitwirkungspflichten verstoßen hat, denn dies setzt ("entsprechende") voraus, dass die Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar ist, der Ausländer aber gegen Mitwirkungspflichten verstößt, die sich gerade auf die Ermöglichung der Ausreise in den anderen Staat beziehen.