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VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 10.01.2006 - 12 TG 1911/05 - asyl.net: M7936
https://www.asyl.net/rsdb/M7936
Leitsatz:

Der "Kalifatstaat" ist keine terroristische Vereinigung i.S.d. § 54 Nr. 5 und Nr. 6 AufenthG; allein der Bezug einer Zeitschrift einer verbotenen Vereinigung stellt keine Gefährdung i.S.d. § 54 Nr. 5 a AufenthG dar.

 

Schlagwörter: Ausweisung, Regelausweisung, Kalifatsstaat, Vereinsverbot, Mitglieder, Terrorismus, gemeinsamer Standpunkt 2005/220/GASP, gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP, Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, Sicherheitsbefragung, Falschangaben, Zeitschrift, Abonnement
Normen: AufenthG § 54 Nr. 5; AufenthG § 54 Nr. 5a; AufenthG § 54 Nr. 6
Auszüge:

Der "Kalifatstaat" ist keine terroristische Vereinigung i.S.d. § 54 Nr. 5 und Nr. 6 AufenthG; allein der Bezug einer Zeitschrift einer verbotenen Vereinigung stellt keine Gefährdung i.S.d. § 54 Nr. 5 a AufenthG dar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Aufgrund des Beschwerdevorbringens (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ist festzustellen, dass die angefochtene Verfügung sich im Hauptsacheverfahren wahrscheinlich als rechtswidrig erweisen wird.

Nach § 54 Nr. 5 AufenthG wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat. Voraussetzung für die Anwendung dieses Regelausweisungstatbestandes ist demnach, dass die Vereinigung, deren Unterstützung dem Ausländer vorgeworfen wird, ihrerseits terroristischen Charakter hat oder den Terrorismus unterstützt. Nur wenn feststeht, dass eine Vereinigung terroristische Bestrebungen unterstützt oder sich selbst terroristisch betätigt, kommt eine tatbestandsmäßige Unterstützung durch einzelne Personen in Betracht (BVerwG, Urteil vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 -, juris-Ausdruck Ziffer 41 = NVwZ 2005, 1091, 1093 f. = DVBl. 2005, 1203, 1207 f.).

Der Begriff des Terrorismus ist im Aufenthaltsgesetz nicht definiert. Einen Anhaltspunkt zur Begriffsbestimmung kann zunächst der Katalog des § 129a Abs. 1 und 2 StGB bieten (Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 28). Da die Bundesrepublik Deutschland mit den Bestimmungen zur Regelausweisung bei Personen, die der Unterstützung des Terrorismus verdächtig sind, auch ihren internationalen Verpflichtungen zur Terrorismusbekämpfung nachkommt (siehe Hailbronner, a.a.O., § 54 AufenthG Rn. 28 am Ende), können darüber hinaus zur Begriffsbestimmung Beschlüsse der EU, die etwa in Form eines "Gemeinsamen Standpunktes" einen textlichen Niederschlag gefunden haben, herangezogen werden (siehe so auch BVerwG, Urteil vom 15.03.2005, a.a.O., juris-Ausdruck Ziff. 42).

Dem Antragsteller wird vorgeworfen, die nach dem Vereinsgesetz verbotene Vereinigung "Kalifatstaat" zu unterstützen bzw. unterstützt zu haben. Die Vereinigung "Kalifatstaat" ist durch Verfügung des Bundesministerium des Innern vom 8. Dezember 2001 auf der Grundlage des Vereinsgesetzes verboten worden. Diese Verfügung ist nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. November 2002 (- 6 A 4.02 -, DVBl. 2003, 873 ff. = NVwZ 2003, 986 ff.) bestandskräftig.

Demgegenüber lässt sich nicht feststellen, dass es sich bei dem "Kalifatstaat" um eine Vereinigung handelt, die den Terrorismus unterstützt.

Auf dieser Sachverhaltsgrundlage scheidet weiter eine Regel-Ausweisung nach § 54 Ziff. 6 AufenthG aus. Nach dieser Vorschrift wird in der Regel ein Ausländer ausgewiesen, der in einer Befragung, die der Klärung von Bedenken gegen die Einreise oder den weiteren Aufenthalt dient, der deutschen Auslandsvertretung oder der Ausländerbehörde gegenüber frühere Aufenthalte in Deutschland oder anderen Staaten verheimlicht oder in wesentlichen Punkten falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen macht, die der Unterstützung des internationalen Terrorismus verdächtig sind. Hiernach kann im vorliegenden Fall offen bleiben, ob dem Antragsteller vorgeworfen werden kann, bei seiner Sicherheitsbefragung am 4. Mai 2005 zu den gestellten Fragen in wesentlichen Punkten falsche oder unvollständige Angaben gemacht und dabei insbesondere Verbindungen zur Organisation Kalifatstaat nur unvollständig angegeben zu haben. Denn es kann nicht festgestellt werden, dass es sich bei der Organisation "Kalifatstaat" um eine Vereinigung handelt, die der Unterstützung des internationalen Terrorismus verdächtig ist.

Schließlich kann die angefochtene Verfügung voraussichtlich auch nicht auf § 54 Ziff. 5a AufenthG gestützt werden. Nach dieser Bestimmung wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet oder - was vorliegend aber nicht in Betracht kommt - sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht. Für die Feststellung einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland reicht die bloße Zugehörigkeit zu einer Vereinigung, die ihrerseits wegen Gefährdung der inneren Sicherheit nach Art. 9 Abs. 2 GG oder § 14 Abs. 1 VereinsG verboten werden kann oder verboten ist, für sich genommen nicht aus (BVerwG, Urteil vom 15.03.2005, a.a.O.). Dies ergibt sich schon aus der Systematik des § 54 AufenthG: Nach § 54 Nr. 7 AufenthG erfüllt den Regel-Ausweisungstatbestand ohne weitergehende feststellungen (nur), wer zu den Leitern eines unanfechtbar verbotenen Vereins gehörte. Bei einer sonstigen Betätigung für eine verbotene Vereinigung muss sich demnach der vereinsrechtliche Verbotsgrund der Gefährdung der inneren Sicherheit nach polizeirechtlichen Grundsätzen in der Person des Ausländers konkretisiert haben (BVerwG, a.a.O.; ferner Urteil vom 31.05.1994 - 1 C 5.93 - BVerwGE 96, 86, 92; Bay. VGH, Beschluss vom 09.11.2005 - 24 CS 05.2621 -, juris-Ausdruck Rz. 91; VGH Mannheim, Beschluss vom 18.11.2004 - 13 S 2394/04 -, InfAuslR 2005, 31, 33; VGH Mannheim, Beschluss vom 07.05.2003 - 1 S 254/03 -, EZAR 032 Nr. 20; Hailbronner, a.a.O., § 54 AufenthG Rn. 41). Hierbei muss nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 15.03.2005, a.a.O., juris-Ausdruck Ziff. 23) zur Feststellung einer Gefährdung der inneren Sicherheit durch den Betroffenen in Zusammenhang mit einer Betätigung für verbotene Vereine und Organisationen insbesondere geprüft werden, ob der Ausländer gegen das strafrechtlich bewehrte Betätigungsverbot nach dem Vereinsgesetz verstoßen hat.

Das Gleiche gilt, soweit dem Antragsteller vorgehalten wird, Vereinszeitschriften der verbotenen Organisation "Kalifatstaat" zu beziehen. Denn der bloße Bezug einer Zeitschrift stellt im Unterschied etwa zur Verteilung der Zeitschrift einer verbotenen Organisation nach Auffassung des Senats im Regelfall noch keine Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar.