VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 24.10.2005 - 9 E 1931/05.A - asyl.net: M7945
https://www.asyl.net/rsdb/M7945
Leitsatz:
Schlagwörter: Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Ermessen, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a
Auszüge:

Der angefochtene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Das Bundesamt hat seine Widerrufsentscheidung rechtsfehlerhaft allein auf der Grundlage von § 73 Abs. 1 AsylVfG getroffen, ohne die im Hinblick auf § 73 Abs. 2 a AsylVfG hier erforderlichen Ermessenserwägungen angestellt zu haben.

Allerdings hat die Prüfung, ob die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG a. F. zu widerrufen sind, sich zunächst auf die in § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG genannten Voraussetzungen zu erstrecken; diese Vorschrift ist nach wie vor maßgebliche Rechtsgrundlage für einen Widerruf. § 73 AsylVfG ist jedoch in der seit dem In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) am 01. Januar 2005 geltenden Fassung anzuwenden. Das ergibt sich ohne weiteres aus § 77 Abs. 1 AsylVfG, wonach das Gericht in Streitigkeiten nach diesem Gesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen hat.

Unmittelbar ergibt sich aus dem Wortlaut des § 73 Abs. 2 a AsylVfG allerdings nur, dass das Bundesamt spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Asylentscheidung zu prüfen hat, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Abs. 1 oder eine Rücknahme nach Abs. 2 vorliegen. Das Ergebnis dieser Prüfung ist der Ausländerbehörde mitzuteilen. Nach § 73 Abs. 2 a S. 3 AsylVfG steht sodann, wenn nach dieser Prüfung ein Widerruf oder eine Rücknahme nicht erfolgt ist, eine spätere Entscheidung nach Abs. 1 oder Abs. 2 im Ermessen des Bundesamts.

Hingegen bezieht sich § 73 Abs. 2 a AsylVfG nicht ausdrücklich auf die Fälle, in denen - wie hier - die in der Vorschrift erwähnte Prüfung nicht stattgefunden hat, weil eine solche Prüfung nach alter Rechtslage nicht ausdrücklich vorgesehen war. Eine Regelung für diese Fälle trifft das AsylVfG auch nicht an anderer Stelle. Insofern liegt nach Auffassung der Kammer eine planwidrige Regelungslücke vor; denn der Gesetzgeber hat andererseits durch § 77 Abs. 1 AsylVfG klar und ohne jede Einschränkung zum Ausdruck gebracht, dass § 73 Abs. 2 a AsylVfG in dieser Fassung anzuwenden ist. Diese Regelungslücke kann nach Auffassung der Kammer nur im Weg einer analogen Anwendung des § 73 Abs. 2 a AsylVfG in diesen Fällen geschlossen werden. Dafür spricht nicht nur die Überlegung, dass es als evident sach- und gleichheitswidrig erschiene, in allen Fällen, in denen die Prüfung nach Abs. 2 a nach Maßgabe der alten Rechtslage nicht stattgefunden hat, die vom Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit einer Ermessensentscheidung über einen etwaigen Widerruf um weitere 3 Jahre bis zu der dann nach Abs. 2 a erforderlich werdenden Prüfung durch das Bundesamt aufzuschieben (befürwortend offenbar BayVGH, Urteile vom 10. Mai 2005 - 23 B 05.30217 - und vom 30. Mai 2005 - 23 B 05.30189), obwohl im Einzelfall weit mehr als 3 Jahre nach dem Eintritt der Bestandskraft der zu widerrufenden Bescheide vergangen sein können und im Fall des Klägers auch vergangen sind. Vielmehr entspricht in diesen Fällen allein eine entsprechende Anwendung des § 73 Abs. 2 a AsylVfG den mit der Einfügung dieser Regelung verfolgten Intentionen des Gesetzgebers (so auch VG Köln a. a. O.). Rechtsfolge einer entsprechenden Anwendung der Vorschrift ist, dass nach Ablauf von drei Jahren nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Ausgangsentscheidung auch unabhängig von der Durchführung der in Abs. 2 a vorgesehenen Prüfung ein Widerruf nur noch im Weg einer Ermessensentscheidung möglich ist. Dies ergibt sich im Einzelnen aus folgenden Erwägungen:

Der Gesetzgeber wollte mit seiner Neuregelung und der Einführung einer obligatorischen Prüfpflicht nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit einer asylrechtlichen Entscheidung den Vorschriften über den Widerruf, die in der Praxis weitgehend leergelaufen seien, mehr Bedeutung verleihen (so die Begründung der Bundesregierung, BT-Drucksache 15/420 vom 07. Februar 2003, S. 112). Daneben trägt die in § 73 Abs. 2 a AsylVfG aufgenommene 3-Jahres-Frist jedoch auch dem Umstand Rechnung, dass Asylberechtigten und anderen Personen, die die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen, nach Ablauf von drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis erteilt wird, sofern das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung entfallen sind (§ 26 Abs. 3 AufenthG). Auch diese Regelung wurde durch das Zuwanderungsgesetz eingeführt und trat zum 01. Januar 2005 in Kraft. Den von diesen Bestimmungen betroffenen Personen sollte mit der gesetzlichen Gesamtregelung eine Perspektive für eine dauerhafte Lebensplanung in Deutschland eröffnet werden (so die Begründung der Bundesregierung, a. a. O., S. 80). Die 3-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2 a AsylVfG verfolgt mithin auch den Zweck, zu einer Verfestigung der aufenthaltsrechtlichen Stellung der betroffenen Asylberechtigten schon nach Ablauf von drei Jahren beizutragen, wenn die materiellen Voraussetzungen für einen Widerruf der asylrechtlichen Entscheidung bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorliegen. § 26 Abs. 3 AufenthG knüpft diese Perspektive der Betroffenen jedoch nicht an die Prüfpflicht des Bundesamts und ihre Erfüllung, sondern verleiht den betroffenen Asylberechtigten ganz unabhängig davon sogar einen Anspruch auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis, der notfalls auch im Klageweg durchgesetzt werden kann. Dieser durch § 26 Abs. 3 AufenthG seit dem 01. Januar 2005 begründeten Rechtsstellung der Asylberechtigten wäre in Altfällen nicht hinreichend Rechnung getragen, wollte man § 73 Abs. 2 a AsylVfG für diese Fälle nur dahin verstehen, dass die Vorschrift lediglich die Prüfpflicht des Bundesamts statuierte mit der Folge, dass Entscheidungen über einen Widerruf erst nach Ablauf von weiteren drei Jahren seit dem 1. Januar 2005 im Ermessen des Bundesamts stehen könnten, in allen Widerrufsverfahren, die vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen wurden oder werden, ein Widerruf hingegen wie schon nach alter Rechtslage generell nur als gebundene Entscheidung ergehen könnte. Im Hinblick auf die mit dem Zuwanderungsgesetz verfolgten Ziele erscheint vielmehr allein eine entsprechende Anwendung der Vorschrift dahingehend sachgerecht, dass auch im Fall von asylrechtlichen Entscheidungen, die bereits zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des § 73 Abs. 2 a AsylVfG seit drei Jahren oder länger unanfechtbar waren, ein Widerruf unabhängig von einer vorgängigen Prüfung durch das Bundesamt lediglich im Ermessensweg erfolgen kann (so ausdrücklich auch VG Köln, a. a. O.).

Dafür spricht auch, dass die Regelung in § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG unverändert erhalten geblieben ist. Danach ist unverzüglich nach Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen ein Widerruf der Asylberechtigung oder der Feststellung eines Abschiebungsverbots vorzunehmen. Es bestand also schon für die Altfälle ein Gebot der möglichst raschen Entscheidung zum Status von Asylberechtigten. Zwar begründete dieses Gebot keine subjektiven Rechte der Betroffenen, sondern statuierte nur eine objektive Rechtspflicht der Behörde. Die Einfügung des Abs. 2 a in § 73 AsylVfG verleiht nun dieser immer schon bestehenden Verpflichtung des Bundesamts auch eine subjektivrechtliche Komponente, indem schon nach Ablauf von drei Jahren ein Widerruf lediglich unter Beachtung der Regelung zur Betätigung pflichtgemäßen Ermessens ermöglicht wird. Damit wird ein ansonsten berechtigter Widerruf zugunsten des durch einen längeren Aufenthalt in Deutschland gekennzeichneten Asylberechtigten zusätzlich erschwert; denn unter dieser zeitlichen Voraussetzung muss das Bundesamt bei seiner Entscheidung trotz Wegfalls der Voraussetzungen für den Fortbestand der Asylberechtigung auch die für einen weiteren Aufenthalt des Asylberechtigten in Deutschland sprechenden Belange in die Entscheidung einbeziehen, selbst wenn sie nicht das Niveau der Unzumutbarkeit im Sinne des § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG erreichen.

Würde man § 73 Abs. 2 a AsylVfG auf Fälle wie denjenigen des Klägers nicht anwenden, würde dies zu einer sachlich nicht gerechtfertigen Ungleichbehandlung im Vergleich mit denjenigen führen, die ihre Asylanerkennung erst nach dem 1. Januar 2005 erhalten. Bei ihnen würde schon ein dreijähriger Bestand der Asylanerkennung zur relativen Verfestigung ihres Aufenthaltsstatus führen, auch wenn die Voraussetzungen für den Fortbestand der Asylanerkennung als solche nicht mehr vorliegen sollten. Demgegenüber müssten Asylberechtigte, die für einen weit längeren Zeitraum als drei Jahre unangefochten - und trotz des Unverzüglichkeitsgebots in § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG - den Status eines Asylberechtigten innehatten - gleiches gilt hier für die rechtlich gleichwertige Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG a. F. -, nochmals weitere drei Jahre warten, bis sie den Schutz der Ermessensregelung des § 73 Abs. 2 a S. 3 AsylVfG erlangen könnten. Ein hinreichender sachlicher Grund für eine derartige Ungleichbehandlung ist nicht ersichtlich, insbesondere nicht im Hinblick auf das unverändert gebliebene Unverzüglichkeitsgebot des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG.

Das Bundesamt durfte sich daher hier aufgrund des langjährigen Fortbestands der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a. F. zugunsten des Klägers nicht damit begnügen, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG festzustellen. Vielmehr hatte es darüber hinaus auch nach Ermessen über die Frage zu entscheiden, ob der Ausgangsbescheid im Fall des Klägers widerrufen werden soll oder nicht.