VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 10.01.2006 - 14 K 6506/03.A - asyl.net: M7953
https://www.asyl.net/rsdb/M7953
Leitsatz:

Keine staatliche oder quasi-staatliche Herrschaftsmacht der Regierung Karsai; Flüchtlingsanerkennung eines Hindus aus Afghanistan; Gruppenverfolgung der Hindus zwischen 1992 und 2001; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Gebietsgewalt, Regierung, Warlords, Schutzfähigkeit, Kabul, Hindus, Gruppenverfolgung, Taliban, Verfolgungsdichte, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Verfolgungsprogramm, nichtstaatliche Verfolgung, Mudjaheddin
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine staatliche oder quasi-staatliche Herrschaftsmacht der Regierung Karsai; Flüchtlingsanerkennung eines Hindus aus Afghanistan; Gruppenverfolgung der Hindus zwischen 1992 und 2001; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Zunächst hat der Kläger wegen Fehlens einer staatlichen Verfolgung keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Afghanistan hat zur Zeit nämlich noch keine hinreichend stabilisierte Herrschaftsgewalt.

Zwar wird nach außen völkerrechtlich die Herrschaft der Regierung Karsai über den ganzen afghanischen Staat nicht in Zweifel gezogen und diese Regierung von der internationalen Staatengemeinschaft gefördert; die völkerrechtliche Anerkennung ist jedoch für die Beurteilung des Vorliegens eines gesicherten inneren errschaftsgefüges in einem Kernterritorium nicht ausschlaggebend, sondern hat allenfalls indizielles Gewicht, vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10.08.2000 - 2 BvR 260/98 u. 1353/98 -, a.a.O.

Voraussetzung für die Annahme einer staatlichen Gewalt ist vielmehr eine effektive Gebietsgewalt in einem Kernterritorium im Sinne einer wirksamen hoheitlichen Überlegenheit im Inneren des Landes.

Davon kann jedoch trotz einiger Erfolge im Bereich der formalen Neuorganisation der Herrschaftsstrukturen, wie der Bildung der Übergangsregierung im Dezember 2001, ihrer Bestätigung durch die Loya Jirga im Juni 2002, der am 9.Oktober 2004 erfolgten Wahl von Hamid Karsai zum Präsidenten durch das afghanische Volk und der durchgeführten Parlamentswahlen am 18.09.2005 sowie des Einsatzes der Schutztruppen der International Security Assistance Force (ISAF) zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) nicht ausgegangen werden (so auch OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 16.06.2004 - 2 LB 54/03 - ;VG Gelsenkirchen, Urteil vom 30.06.2005 - 5a 5168/99.A - m.w.N.; a.A. VG Minden, Urteile vom 24.07.2003 - 9 K 2258/00.A -, Asylmagazin 11/2003, S. 13, und vom 17.05.2004 - 9 K 5145/03.A -, Asylmagazin 9/2004, S. 15 m.w.N.).

Die Regierung Karsai besitzt auf dem Staatsgebiet keine hinreichend gesicherte Herrschaftsmacht von gewisser Stabilität im Sinne einer übergreifenden Friedensordnung. Dass die Regierung Karsai nicht nur vom Ausland, sondern auch von den maßgeblichen Politikern, Gouverneuren, lokalen Machthabern und Kommandeuren zur Zeit formal anerkannt wird, hat ihr bisher selbst in Kabul nicht die hinreichende Herrschaftsmacht und Durchsetzungskraft verschafft, um eine übergreifende Friedensordnung mit Sicherheit für Leib und Leben der Bewohner im Land oder auch nur in wesentlichen Teilen des Landes zu errichten.

Insbesondere ist die Regierung Karsai nicht in der Lage, die allgemeine Sicherheit der Bevölkerung, die Voraussetzung für das Vorliegen einer übergreifenden Friedensordnung ist, zu gewährleisten, vielmehr hat diese sich in jüngster Vergangenheit landesweit nicht verbessert, sondern teilweise sogar verschlechtert; selbst im Raum Kabul bleibt sie weiter brüchig und ist trotz Anwesenheit der ISAF Truppen nur sehr eingeschränkt vorhanden.

Entscheidend ist jedoch, dass die Regierung Karsai zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder in Afghanistan noch in einem Teil Afghanistans ein Gewaltmonopol besitzt. Sie ist nicht in der Lage, sich in den einzelnen Landesteilen gegenüber den sog. Warlords, Lokalherrschern oder Stammesfürsten, durchzusetzen (vgl. Baraki, a.a.O., S. 28f.; Deutsches Orient-Institut, Gutachten an das Sächsische OVG vom 23.09.2004; Danesch, Gutachten an das Sächsische OVG vom 24.07 2004).

Der Kläger hat jedoch gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG vorliegen.

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall der herabgestufte Prognosemaßstab des Erfordernisses hinreichender Verfolgungssicherheit zu Grunde zu legen, weil der Kläger nach der Überzeugung der Kammer im Frühjahr 2000 als Verfolgter i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG aus Afghanistan ausgereist ist.

Eine derartige Vorverfolgung ergab sich bereits aus seiner Zugehörigkeit zur Religions- und Volksgruppe der Hindus, so dass es auf eine individuelle Vorverfolgung des Klägers nicht mehr ankommt. Hindus wurden in Afghanistan nach dem Sturz des kommunistischen Regimes 1992 von den verschiedenen Mudjaheddin-Gruppen und anschließend - nach der Machtergreifung durch die Taliban - von diesen bis zum Ende ihrer Herrschaft Ende 2001 als religiöse und insbesondere als ethnische Minderheit verfolgt. Die Kammer schließt sich insoweit der Rechtsprechung des VG Gelsenkirchen an (Urteil vom 28.04.2005 - 5a K 4421/03.A -).

Zwischen 1992 und 2001 kam es in Afghanistan zu zahlreichen Übergriffen gegenüber Hindus.

Die erwähnten Maßnahmen gehen über eine bloße Diskriminierung der Minderheit der Hindus hinaus und lassen die notwendige Verfolgungsintensität erkennen. Zwar mag man für einige der soeben angeführten Maßnahmen auch andere Erklärungen anführen, die für sich genommen nicht darauf schließen lassen, dass die Hindus auch zielgerichtet verfolgt wurden. So war beispielsweise der Schulbesuch auch vielen anderen afghanischen Kindern, insbesondere Mädchen, nicht möglich. Der Entzug des Grundbesitzes traf nicht nur die Hindus, sondern auch andere wohlhabende Afghanen. In den anarchischen Zuständen zur Zeit des Bürgerkriegs wurden nicht nur die Hindus Opfer von Übergriffen, Misshandlungen, Vergewaltigungen etc. Wenn auch im Hinblick auf einzelne dieser Maßnahmen verschiedene andere Bevölkerungsgruppen bzw. Einzelpersonen Opfer waren, so bleibt doch festzuhalten, dass die Hindus jedenfalls immer und von allen Maßnahmen, nicht nur von einzelnen betroffen waren. Gerade dieses bei den Hindus festzustellende Zusammenwirken der zahlreichen verschiedenen Maßnahmen verdeutlicht ihre Zielgerichtetheit und führt zur asylerheblichen Intensität.

Hinzu kommt die Tatsache, dass fast alle afghanischen Hindus im Laufe der neunziger Jahre das Land verlassen haben, da sie auf Grund der aufgezeigten Referenzfälle und ihrer Maßnahmen, die vielen anderen Hindus widerfahren sind, sowie in dem Klima allgemeiner moralischer, religiöser und gesellschaftlicher Verachtung, der sie ausgesetzt waren, um ihr Leben fürchten mussten. Die wenigen Hindus, die in Afghanistan geblieben sind, waren in der Regel diejenigen, denen die finanziellen Mittel für eine Ausreise fehlten; ihre ausreichende Versorgung war weder in medizinischer Hinsicht noch mit Nahrungsmitteln sichergestellt (vgl. hierzu neben den zuvor genannten Erkenntnisquellen auch Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Schleswig-Holstein vom 24.07.2000).

Gerade dieser deutliche Exodus belegt sehr anschaulich und ist ein gewichtiges bis fast schon eindeutiges Indiz dafür, dass die Bürgerkriegsparteien die Hindus zielgerichtet verfolgten. Keine andere Bevölkerungsgruppe hat das Land in dieser Größenordnung und nahezu vollständig verlassen. Unter der Taliban-Herrschaft bzw. schon kurz vor der Machtergreifung durch die Taliban waren die Hindus dann aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan praktisch verschwunden (vgl. Danesch, Gutachten vom 08.04.1997 an VG Gießen, sowie die Aussagen von Dr. Danesch in diesem Verfahren in der mündlichen Verhandlung).

Zwar ist kein systematisches Programm zur Vertreibung der Hindus bekannt. Es herrschte jedoch unter den verschiedenen Mudjaheddin-Gruppen und ihren Führern sowie bei den Taliban uneingeschränkte Übereinstimmung darüber, die Hindus ihrer Rechte zu berauben und sogar äußerstenfalls ihr Leben nicht zu schonen.

Zur Annahme einer Gruppenverfolgung ist nicht zwingend die Durchführung von Pogromen erforderlich.

Den gleichen Effekt wie bei von führenden Stellen angeordneten Übergriffen auf eine Vielzahl von Hindus zur gleichen Zeit hatte die Vorgehensweise der Mudjaheddin, indem sie eine Hindu-Familie nach der anderen unter Zwang, Inhaftierung und Vergewaltigung zum Verlassen ihrer Häuser mehr als deutlich aufforderten.

Gegen eine Verfolgung der Hindus spricht auch nicht die Einschätzung, dass im Jahr 2001 religiös begründete Repressionen gegen Hindus nicht bekannt geworden seien oder dass es keine verlässliche Grundlage für die Erwägung gebe, die Taliban verfolgten das Ziel der religiösen Säuberung des Landes von den Hindus (so aber OVG NRW, Urteil vom 28.05.1998 - 20 A 7317/95.A - m.w.N.; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 09. Mai 2001).

Dabei darf nicht übersehen werden, dass zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Hindus mehr in Afghanistan lebten und die wenigen noch zurückgebliebenen Hindus, weil sie vollkommen verschüchtert waren, sich nicht zu erkennen gaben und teilweise in Kleidung und Namensgebung ihre religiöse Identität in der Öffentlichkeit verleugneten. Wenn jedoch kaum noch Hindus vorhanden sind und die wenigen verbliebenen verängstigt und versteckt leben, bedarf es auch nicht mehr des Ziels einer religiösen Säuberung des Landes von den Hindus, weil dieses Ziel schon lange vorher - zum großen Teil schon vor der Machtergreifung durch die Taliban - erreicht war.

Vor diesem Hintergrund geht die Kammer davon aus, dass der Kläger aufgrund der Vorverfolgung für die Beurteilung der Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr der herabgesetzte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugute kommt und eine Rückkehr nach Afghanistan ihm nur zuzumuten ist, wenn eine hinreichende Sicherheit besteht, dass er nicht erneut einer gleichartigen Verfolgung ausgesetzt wird. Dabei ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AsylVfG hinsichtlich der Frage der Vorverfolgung auf die Rechtslage nach Inkrafttreten des AufenthG am 1. Januar 2005 abzustellen mit der Folge, dass dem Kläger nicht mehr entgegengehalten werden darf, dass in Afghanistan zum Zeitpunkt seiner Vorverfolgung keine Staatsgewalt bestanden habe. Denn nach § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG kann auch von nichtstaatlichen Akteuren eine Verfolgung ausgehen, wenn der Staat oder Parteien und andere Organisationen keinen Schutz gewähren konnten oder wollten und es keine inländische Fluchtalternative gab. Ob im Frühjahr 2000 die Taliban schon Staatsgewalt ausübten oder nicht, kann hier dahinstehen. Übten sie Staatsgewalt aus, liegen hinsichtlich des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs.1 Satz 4 lit. a) AufenthG vor. Sollte diese verneint werden, erfüllte die Herrschaft der Taliban sicher die Voraussetzungen des § 60 Abs.1 Satz 4 lit. b) oder c) AufenthG. Im letzteren Falle war ein hinreichender Schutz für den Kläger auch nicht in den nicht von Taliban beherrschten Gebieten zu erreichen. Zum einen hätte er von Kandahar aus durch von Taliban besetzte Gebiete in Richtung Norden flüchten müssen, zum anderen herrschten dort Mudjaheddin bzw. mit ihnen verbündete Gruppierungen, so dass er auch dort gefährdet gewesen wären.

Der vorverfolgt ausgereiste Kläger ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht vor erneuter gleichartiger Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 1 u. 4 lit. c) AufenthG hinreichend sicher.

Nach der gegenwärtigen Auskunftslage kann für Hindus in Afghanistan keine Sicherheitsgarantie abgegeben werden. Insbesondere die Regierung Karsai und die internationalen Schutztruppen können die Sicherheit der Hindus und ihren Schutz vor Übergriffen seitens Teilen der Bevölkerung oder diverser Mudjaheddin-Gruppen nicht garantieren. Das gilt für das gesamte Land. Zwar sind Häufigkeit und Intensität von Übergriffen gegenüber Hindus nur in geringerem Maße feststellbar. Dies ist aber nicht unwesentlich auf die ganz geringe Zahl von Hindus zurückzuführen, die noch in Afghanistan leben. Insbesondere die Entwicklung nach 2002 zeigt zudem, dass sich die Situation durch das erneute Vordringen fundamentalischer Kräfte deutlich verschlechtert hat. Derartige Übergriffe können jedoch keinesfalls ausgeschlossen werden.