VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Beschluss vom 05.01.2006 - 12 L 169/03 - asyl.net: M7956
https://www.asyl.net/rsdb/M7956
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Türken, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Wiederholungsgefahr, Strafaussetzung, Strafrestaussetzung, Schutz von Ehe und Familie, Verhältnismäßigkeit, Ermessen, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Sofortvollzug, Begründung, dringender Fall
Normen: AufenthG § 55; StGB § 56; StGB § 57; ARB Nr. 1/80 Art. 14 Abs. 1; GG Art. 6; EMRK Art. 8; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1
Auszüge:

Soweit die Ausweisung des Antragstellers in Rede steht, kann das Verwaltungsgericht gemäß § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) die nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ausgeschlossene aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs wiederherstellen, wenn das private Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland das öffentliche Interesse an seiner sofortigen Ausreise überwiegt oder zumindest von gleichem Gewicht ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da sich die Ausweisung nach eingehender, nicht nur summarischer Überprüfung auch zum jetzigen Zeitpunkt als rechtmäßig erweist und im Widerspruchsverfahren Bestand haben wird; darüber hinaus hat der Antragsgegner die sofortige Vollziehung mit einer nicht zu beanstandenden Begründung angeordnet.

Grundlage für die Ausweisung ist nunmehr § 55 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 2.04 -, AuAS 2005, 220), hier § 55 Abs. 1, 2 Nr. 2 i.V.m. § 56 Abs. 1 AufenthG.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteile vom 3. August 2004 - 1 C 29.02 -, AuAS 2005, 26, und - 1 C 30.02 -, BVerwGE 121, 297, jeweils mit weiteren Nachweisen), ist für die gerichtliche Überprüfung einer Ausweisung in Fällen der vorliegenden Art auf die aktuelle Sach- und Rechtslage, mithin hier auf den Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer abzustellen. Die rechtmäßige Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, dem ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zusteht, setzt voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Beurteilung, ob die Begehung einer Straftat nach deren Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, ist auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, wobei sich hierfür auch Anhaltspunkte aus einer Verurteilung wegen in §§ 53, 54 AufenthG aufgeführten Straftaten ergeben können. Eine gegenwärtige Gefährdung im vorstehenden Sinne verlangt eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit differenzierende Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung (hier im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80) beeinträchtigen wird. Für die Prognose einer solchen Wiederholungsgefahr sind die Umstände des Einzelfalles individuell zu würdigen. Insbesondere sind heranzuziehen: die einschlägigen strafrechtlichen Entscheidungen, ob eine Strafverbüßung erwarten lässt, dass der Betreffende künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdenden Straftaten mehr begehen wird, und was aus einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 StGB, ggf. (eingeschränkt) der Aussetzung des Strafrests nach § 57 StGB folgt. Weiterhin hängt die Rechtmäßigkeit der Ausweisung der vorliegenden Art davon ab, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit (hier im Sinne von Art 14 Abs. 1 ARB 1/80) das private Interesse des Betreffenden an seinem Verbleib im Bundesgebiet überwiegt. In die von der Ausländerbehörde vorzunehmende Abwägung sind die besondere Rechtsstellung des (hier) assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen sowie seine Grund- und Menschenrechte, vor allem Art. 6 GG und Art. 8 EMRK einzustellen, bei Ausweisung eines Straftäters aber auch insbesondere die Art und Schwere der begangenen Straftat(en), die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, die seit der Tatbegehung verstrichene Zeit, die familiäre Situation des Betreffenden und das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen er, sein Ehegatte und ggf. seine Kinder in der Türkei begegnen können. Darüber hinaus sind sowohl der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die (jetzt) in § 55 Abs. 3 AufenthG genannten privaten Belange in der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. Die Ausländerbehörde darf aber auch auf den Einzelfall abstellend die in den §§ 53 bis 56 AufenthG aufgeführten Ausweisungsgründe und Gründe für einen besonderen Ausweisungsschutz als - weder abschließende noch zwingende - Wertungen des Bundesgesetzgebers einbeziehen.

Bei der Prüfung der Ermessensausweisung prüfen die Tatsachengerichte (auch), ob die behördliche Gefährdungsprognose und die Ermessensentscheidung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auf einer zutreffenden tatsächlichen Grundlage beruhen.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung hat der Antragsgegner hinreichend begründet. Sie ist auch nicht deshalb zu beanstanden, weil ihr Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 (RiLi 64/221/EWG) entgegenstünde. Hiernach darf eine Verwaltungsbehörde unter bestimmten Voraussetzungen die Entscheidung u.a. über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer (anderen) zuständigen Stelle treffen. Zwar ist diese Vorschrift auf türkische Staatsangehörige grundsätzlich anwendbar (vgl. EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 - C-136/03 (Dörr/Ünal)).

Allerdings hat die Kammer bereits Zweifel daran, dass die Aussagen in dem vorgenannten Urteil auf die Fälle des § 80 Abs. 5 VwGO in Fällen der vorliegenden Art übertragbar ist und die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung durch die Ausländerbehörde nach nationalem deutschen Recht ausschließen (anderer Ansicht die 23. Kammer des Verwaltungsgerichts Köln; vgl. Beschlüsse vom 7. November 2005 - 23 L 1474/05 - und 12. Dezember 2005 - 23 L 1150/05 -).

Der EuGH geht in der zitierten Entscheidung davon aus, dass der (österreichische) Verwaltungsgerichtshof und der Verfassungsgerichtshof die behördliche Entscheidung über die Entfernung eines Ausländers aus dem Staatsgebiet ausschließlich auf ihre Gesetzmäßigkeit hin überprüfen. Eine solche Einschränkung gilt für das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO allerdings nicht. Abgesehen von den Fällen, in denen das Verwaltungsgericht eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO im Wege der allgemeinen Interessenabwägung ohne abschließende Prüfung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer behördlichen Maßnahme trifft, kann es auch dann, wenn es eine Ausweisung als "gesetzmäßig" ansieht, dennoch einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stattgeben, z.B. weil dem Betroffenen durch den sofortigen Vollzug der Ausweisung unverhältnismäßige Nachteile entstehen könnten. Unabhängig von den dargelegten Zweifel an der Richtlinienwidrigkeit der nationalen Regelungen liegt im hier zu beurteilenden Fall jedenfalls ein "dringender Fall" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der RiLi 64/221/EWG vor. Ob dies sogar grundsätzlich immer oder zumindest in der Regel dann der Fall ist, wenn die Voraussetzungen für eine Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO gegeben sind (vgl. in diesem Sinne wohl OVG Lüneburg, Beschluss vom 6. Oktober 2005 - 11 ME 297/05 - Ausweisung eines türkischen Heranwachsenden wegen verhängter (Gesamt-)Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten), mag dahinstehen. Jedenfalls ist im vorliegenden Verfahren festzuhalten, dass die sofortige Entfernung des Antragstellers aus dem Bundesgebiet zum Schutze von Leib und Leben anderer Personen unausweichlich ist.