VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 11.01.2006 - A 10 K 10553/04 - asyl.net: M7959
https://www.asyl.net/rsdb/M7959
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung afghanischer Staatsangehöriger wegen Konversion zum Christentum; Konversion wird innerhalb der Großfamilie und Nachbarschaft zwangsläufig bekannt und führt zu der Regierung zurechenbarer Verfolgung.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Christen, Konversion, Apostasie, Religionsfreiheit, religiöses Existenzminimum, Todesstrafe, nichtstaatliche Verfolgung, mittelbare Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 33 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung afghanischer Staatsangehöriger wegen Konversion zum Christentum; Konversion wird innerhalb der Großfamilie und Nachbarschaft zwangsläufig bekannt und führt zu der Regierung zurechenbarer Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben aber einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wären die Kläger, wenn ihr Abfall vom islamischen Glauben und der Übertritt zum christlichen Glauben der Familie der Klägerin zu 1) und in der Nachbarschaft bekannt würde, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt, die der Übergangsregierung zuzurechnen wären oder gegen die sie jedenfalls keinen Schutz durch diese erhalten würden (so bereits VG Minden, Urt. vom 13.01.2005 - 9 K 5560/03.A und vom 08.09.2005 -9 K 1090105.A-; VG Lüneburg, Urt. vom 10.5.2005 -1 A 872/03-, VG Oldenburg, Urt. vom 03.08.2005 -7 A 4142/03-, alle zit. nach juris). Eine Praktizierung ihres Glaubens in einer das religiöse Existenzminimum wahrenden Weise ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht gewährleistet.

Die Rechtslage in Afghanistan zur Frage der Konversion ist nicht eindeutig bzw. noch ungeklärt und es ist auch noch keine einschlägige Rechtspraxis bekannt geworden. In der Gesamtschau spricht aber vor allem der Islamvorbehalt und dessen bisherige Umsetzung in der Praxis in der Verfassung dafür, dass ein Bekanntwerden des Übertritts zum christlichen Glauben nicht sanktionslos bliebe. Das Auswärtige Amt führt zur Frage der Religionsfreiheit in der islamischen Republik Afghanistan in seinem Lagebericht vom 12.12.2005 (im folgenden Lagebericht) und in seiner Auskunft an das VG Hamburg vom 22. 12. 2004 aus: Art. 2 der neuen afghanischen Verfassung vom 26. Januar 2004 bestimmt in Abs. 1, dass der Islam Staatsreligion Afghanistans ist. Abs. 2 der Vorschrift räumt Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften das Recht ein, im Rahmen der Gesetze ihren Glauben auszuüben und ihre religiösen Bräuche zu pflegen. Dieses Recht steht unter einem Gesetzesvorbehalt. Er ist nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes bislang nicht konkretisiert worden (S. 22). Aus der Tatsache, dass demnach in Art. 2 der Verfassung damit zwar Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften das Recht eingeräumt wird, ihren Glauben auszuüben, folgt jedoch nicht auch, dass es von Verfassungswegen einem Moslem freisteht, zum christlichen Glauben überzutreten. Denn in der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22.12.2004 an das VG Köln wird ausgeführt, nach Mitteilung der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission umfasse das Recht auf freie Religionsausübung nicht die Freiheit, vom Islam zu einer anderen Religion zu konvertieren; vielmehr komme in diesem Fall Scharia-Recht zur Anwendung. Danach drohe Konvertiten, die ihren moslemischen Glauben aufgeben, die Todesstrafe. Art. 3 der Verfassung enthält auch einen so genannten Islamvorbehalt, wonach Gesetze nicht "dem Glauben und den Bestimmungen des Islam" zuwiderlaufen dürfen. Allerdings wird auf die Scharia nicht Bezug genommen (Lagebericht S. 9). Fraglich ist, ob dies entgegen den Angaben der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission heißt, dass in Afghanistan die Sharia im Falle einer Konversion nicht zur Anwendung kommt. Da an anderer Stelle im Lagebericht ausgeführt wird, es bestehe keine Einigkeit über die Gültigkeit und damit Anwendbarkeit von Rechtssätzen, spricht manches dafür, dass diese Frage ebenfalls noch ungeklärt ist. Aber im Hinblick darauf, dass in der islamischen Rechtslehre Einverständnis darüber besteht, dass der Abfall vom Glauben ein todeswürdiges Verbrechen ist, ist eher von der Anwendbarkeit der Sharia auszugehen. Der Islamvorbehalt in Art. 3 der Verfassung wird jedenfalls auch umgesetzt. Denn zur Überwachung der Einhaltung der Gebote des Islam hat Präsident Karzai am 17.9.2003 per Dekret die Einsetzung eines islamischen religiösen Rates (Shura) genehmigt. In diesem religiösen Rat mit 2600 Mitgliedern sollen Rechtsgelehrte aus allen Provinzen dafür Sorge tragen, dass die Gebote des Islam eingehalten werden. Im Religionsministerium wurde zudem eine Abteilung "zur Überwachung der Einhaltung religiöser Vorschriften" mit fünf Unterabteilungen, darunter die Abteilung "Erkennen von Unglauben" gegründet. Diese Abteilung verfügt allerdings nicht über polizeiliche Befugnisse und ist finanziell schlecht ausgestattet (Lagebericht S. 22).

Bisher liegen auch noch keine Referenzfälle für eine asylerhebliche Verfolgung bei einer Rückkehr nach Afghanistan nach Bekanntwerden eines Übertritts zum christlichen Glauben vor. Allerdings führte die Veröffentlichung eines Artikels des Chefredakteurs des monatlichen Magazins "Huquq-e Zan" (Women‘s Rights), der u. a. zum Inhalt hatte, eine Abkehr vom Islam sollte nicht als Verbrechen betrachtet werden, zu einer Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis wegen Blasphemie (Lagebericht S. 18). Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes (S. 23) wird zudem berichtet, dass ein Kommandant, der sich, wie auch seine Frau, offen zum Christentum bekannt hatte, Anfang 2003 von seiner eigenen Familie und Vertretern der konservativen Geistlichkeit offen bedroht wurde.

In dem Lagebericht wird zur Situation der Konvertiten ausgeführt (S. 22): Zur tatsächlichen Situationen von Konvertiten in Afghanistan sei kaum etwas bekannt, weil diese ihr Bekenntnis meist geheim hielten. Eine ungehinderte offene Ausübung ihrer Religionen sei für Konvertierte in Afghanistan kaum möglich; bis auf eine christliche Kirche auf dem Gelände der italienischen Botschaft in Kabul seien keine christlichen Gemeinden in Afghanistan bekannt. In der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22.12. 2004 an das VG Hamburg wird ausgeführt: Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes gebe es nur wenige Afghanen, die vom Islam zum Christentum konvertiert seien; diese übten ihren Glauben aus Angst vor Übergriffen der Staatsorgane oder des sozialen Umfeldes heimlich aus; laut den Angaben der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission seien zum Christentum konvertierte ehemalige Moslems gezwungen, sich zu verstecken und ihren Glauben zu verheimlichen, andernfalls könnten Übergriffe auf sie nicht ausgeschlossen werden; es sei landesweit ein dauerhafter staatlicher Schutz nicht erreichbar; Repressionen gegen Kinder afghanischer Eltern, die vom Islam zum Christentum konvertiert seien, könnten nicht ausgeschlossen werden.

In dem Gutachten des M. Danesch vom 13.5.2004 wird zur Frage der Wahrung des religiösen Existenzminimums ausgeführt: Es sei in Afghanistan praktisch nicht möglich, seinen Glauben privat und diskret auszuüben. Afghanistan sei trotz der Verabschiedung einer "modernen" vom Westen stark beeinflussten Verfassung nach wie vor ein nicht nur islamisch, sondern fundamentalistisch geprägtes Land mit einer ausgeprägten Stammesmentalität. In der Stadt sei die Großfamilie der Garant dafür, dass die althergebrachten Werte eingehalten würden. Sie verstoße jedes Familienmitglied, das diesen Werten zuwiderhandelte. Christen gälten als unrein, wer zum christlichen Glauben übertrete, der bringe nicht nur Schande über sich selbst, sondern über die gesamte Familie. Ein solches Verhalten könnte auch in der Nachbarschaft bzw. in der moslemischen Gemeinde nicht verborgen bleiben. Eine Privatsphäre nach westlichen Maßstäben existiere in einer afghanischen Großfamilie nicht. Weder Erwachsene noch Jugendliche könnten ein Recht auf einen privaten Rückzugsraum geltend machen, in dem man beispielsweise unbemerkt Gebete verrichten, heimlich christliche Schriften lesen oder christliche Symbole aufbewahren könne. Kein Familienmitglied könne sich Aktivitäten wie dem fünfmal täglichen Gebet, dem gemeinsamen Moscheebesuch oder islamischen Feierlichkeiten entziehen. Für einen afghanischen Konvertiten, der zuvor dem Islam angehört habe, sei es auch völlig unmöglich, an den Zusammenkünften christlicher Gemeinden teilzunehmen, ohne sich als Abtrünniger zu offenbaren.