VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 04.11.2005 - 25 K 3871/05.A - asyl.net: M7973
https://www.asyl.net/rsdb/M7973
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für vorverfolgten Tschetschenen aus Russland, der in den Verdacht der Unterstützung der Rebellen geraten war.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Festnahme, Haft, Folter, Verdacht der Unterstützung, Rebellen, Amtswalterexzesse, Situation bei Rückkehr, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Filtrationslager, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für vorverfolgten Tschetschenen aus Russland, der in den Verdacht der Unterstützung der Rebellen geraten war.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, weil sein Leben und seine Freiheit in der Russischen Föderation aus den dort genannten Gründen bedroht sind.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 4. November 2005 überzeugend geschildert, Grund seines Asylbegehrens sei, dass er in Tschetschenien von dem russischen Militär festgenommen worden sei und er sich drei Monate in Haft befunden habe. Während der Haftzeit ist der Kläger körperlich misshandelt worden, seine Ehefrau ist an den Schlägen gestorben.

Es liegen auch keine Amtswalterexzesse vor, die dem russischen Staat nicht zurechenbar wären. Vielmehr sind die Taten im Rahmen der Verfolgungshandlungen zu sehen, die russische Soldaten und Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch der erneuten Auseinandersetzungen mit tschetschenischen Rebellen auch an unbeteiligten Zivilisten in der Russischen Föderation begangen haben. Die Berichte über Hausdurchsuchungen und Säuberungen in der Region sind zahlreich, auch das brutale Vorgehen der Soldaten dabei ist wiederholt geschildert worden.

Diese menschenrechtswidrige Praxis steht im Zusammenhang mit zahlreichen weiteren Menschenrechtsverletzungen, die von der russischen Armee in Tschetschenien begangen werden.

Ferner ist der Kläger vor einer unmittelbar drohenden weiteren politischen Verfolgung geflohen.

Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation muss der Kläger mit weiterer politischer Verfolgung rechnen. Wie das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 16. Februar 2004 - 508-516.80/3 RUS - berichtet, werden nach Russland zurückkehrende Tschetschenen besonders beobachtet.

Der Kläger muss bei einer Festnahme durch die russischen Behörden auch damit rechnen, dass er in der Gefangenschaft gefoltert, möglicherweise auch getötet wird. Es gibt zahlreiche Berichte aus den vergangenen Jahren, dass tschetschenische Volkszugehörige brutal misshandelt, gequält und getötet wurden, wenn sie russischen Sicherheitskräften in die Hände fielen (Die Tageszeitung vom 24. Dezember 2002 "Wie der Kreml Terroristen züchtet"; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Februar 2003 "Entführt von Maskierten im Tarnanzug"; Süddeutsche Zeitung vom 19. März 2003 "Der Terror der Todesschwadrone"; Frankfurter Rundschau vom 26. April 2003 "Neue Herren"; Süddeutsche Zeitung vom 8. Juli 2003 "Im freien Fall"; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. August 2003 "267 Entführungen"; Neue Züricher Zeitung vom 13. April 2004 "Anhaltend düstere Lage im russischen Nordkaukasus"; Berliner Zeitung vom 26. Mai 2004 "Folter in russischen Gefängnissen"). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Februar 2004 (508-516.80/3 RUS) gibt es in Russland so genannte Filtrationslager, in denen nach glaubhaften Berichten regelmäßig grausame Folterungen vorkommen. Inzwischen könne aufgrund von Augenzeugenberichten und Filmaufnahmen davon ausgegangen werden, dass es in und um Grosny Filtrationslager gebe, in denen auch systematisch gefoltert werde. Dem Menschenrechtskommissar des Europarates, Gil-Robles, hätten bei seinem Besuch in Tschetschenien zwar auch Haftanstalten mit ordentlich gestrichenen Zellen gezeigt werden können, er habe mit den Gefangenen aber nur unter Aufsicht der russischen Bewacher sprechen können. Die Inspektionsergebnisse des IKRK seien gar nicht und die des Anti-Folter-Ausschusses des Europarates weit überwiegend nicht veröffentlicht worden, weil die russischen Behörden nicht zugestimmt hätten. Unter diesen Umständen muss auch der Kläger damit rechnen, bei einer Festnahme gefoltert oder misshandelt zu werden. Dies gilt umso mehr, als er angezeigt wurde, Kontakt mit tschetschenischen Kämpfern zu haben.

Eine inländische Fluchtalternative ist zu verneinen.

Grundsätzlich steht Menschen, die im Zusammenhang mit dem Tschetschenienkrieg Übergriffe des russischen Staates ausgesetzt waren, in der übrigen Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung, wie das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in seiner Entscheidung vom 12. Juli 2005 - 11 A 2307/03.A - entschieden hat. Dies gilt jedoch nicht für den Kläger, der verdächtigt wird, Kontakt zu den Kämpfern zu haben. Der Kläger hat betont, ohne diese Denunziation wären die Sicherheitskräfte nicht zu ihm gekommen.