OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26.10.2005 - 8 A 1949/04.A - asyl.net: M7974
https://www.asyl.net/rsdb/M7974
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Sippenhaft, exilpolitische Betätigung, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, PKK, TKP/ML, ATIF, Föderation türkischer Arbeitervereine, Mitglieder, Vorstandsmitglieder, Verein
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keinen Anspruch auf die Feststellung des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG, das mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes - ZuwandG - vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) am 1. Januar 2005 an die Stelle des Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 AuslG getreten ist.

Der Kläger ist im November 1999 nicht als politisch Verfolgter aus der Türkei ausgereist. a) Der Sachvortrag des Klägers zu seinem individuellen Vorfluchtschicksal, insbesondere zu seinen angeblichen Festnahmen aus politischen Gründen, ist nicht glaubhaft.

b) Für den Kläger stand im Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Türkei Ende 1999 auch nicht die Einbeziehung in die politische Verfolgung seiner Cousins, seiner Cousine oder seiner beiden Verwandten, die als Rechtsanwälte für Öcalan tätig gewesen sein sollen, unmittelbar bevor (sog. Sippenhaft).

Nach den vom Senat ausgewerteten Quellen drohte Sippenhaft in der Türkei im hier maßgeblichen Zeitpunkt im Allgemeinen nur nahen Angehörigen (Ehegatten, Eltern, Kindern ab 13 Jahren und Geschwistern) von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation (vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, UA S. 80; Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, Rdnrn. 361 - 386, jeweils m.w.N.).

2. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) droht dem Kläger auch bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

b) Auch wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten droht dem Kläger nach einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

Nach der aktuellen Erkenntnislage ist davon auszugehen, dass türkische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr oder Abschiebung nur dann ernsthaft gefährdet sind, längere Zeit festgehalten und unter Misshandlungen bis hin zur Folter verhört zu werden, wenn der Verdacht besteht, dass sie sich durch Aktivitäten im Ausland nach türkischem Recht strafbar gemacht haben, etwa weil ihre Aktivitäten als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen gewertet werden. Falls ein Asylbewerber den in Deutschland operierenden Diensten durch exilpolitische Betätigungen niedrigen Profils aufgefallen und diese registriert worden sein sollten, ist es zwar möglich, dass er bei einer Wiedereinreise in die Türkei verhört wird; das Verhör kann mitunter einige Stunden dauern. Mit darüber hinaus gehenden Maßnahmen, insbesondere Misshandlungen, muss er aber nur bei dem Verdacht strafbaren Handelns rechnen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach türkischem Recht nur bestimmte im Ausland begangene Verstöße gegen das türkische Strafgesetzbuch verfolgt werden, nämlich insbesondere Verbrechen gegen die "Persönlichkeit des türkischen Staates" (Art. 125 bis 173 tStGB); Verstöße gegen das Antiterrorgesetz zählen dazu beispielsweise nicht.

Eine exponierte exilpolitische Tätigkeit im Zusammenhang mit öffentlichen Veranstaltungen liegt vor, wenn der Asylsuchende bestimmenden Einfluss auf Zeitpunkt, Ort, Ablauf oder - vor allem - auf den politischen Inhalt der Veranstaltung hat, also in den Augen der türkischen Sicherheitskräfte in der Rolle des "Aufwieglers" und Anstifters zum Separatismus agiert. Dies ist etwa anzunehmen für Leiter von größeren und öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen und Protestaktionen sowie Redner auf solchen Veranstaltungen, nicht aber schon für denjenigen, der bei der Anmeldung gegenüber der deutschen Polizei rein formell als Versammlungsleiter aufgeführt ist (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, UA S. 79ff.; Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, UA S. 71; Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, Rndrn. 263 und 309).

Die Mitgliedschaft in einer nach deutschem Recht legalen Exilorganisation ist für sich genommen nach türkischem Recht nicht strafbar. Anderes gilt nur dann, wenn die konkreten Aktivitäten eines Vereinsmitgliedes den Verdacht einer Straftat begründen, etwa wegen tatsächlicher oder vermuteter Verbindungen zur PKK oder wegen einer Meinungsäußerung, die nach den dargestellten Maßstäben und aus der Sicht des türkischen Staates eine Einflussnahme auf die türkische Innenpolitik darstellt. Ob dies der Fall ist, hängt im wesentlichen davon ab, welche politischen Ziele die jeweilige Exilorganisation verfolgt und welche Stellung der Asylsuchende dort innehat. Im Blickpunkt der türkischen Sicherheitskräfte stehen vor allem diejenigen exilpolitischen Vereinigungen, die als von der PKK bzw. ihren Nachfolgeorganisationen dominiert oder beeinflusst gelten oder die von türkischer Seite als vergleichbar militant staatsfeindlich eingestuft werden. Dazu sind insbesondere Vereine zu zählen, die der in der Türkei illegalen und als terroristisch eingestuften TKP/ML sowie deren Unterorganisationen wie etwa der ATIF (Föderation türkischer Arbeitervereine in Deutschland) zuzurechnen sind. Dasselbe gilt für die Mitglieder oder Delegierten des von 1995 bis 1999 bestehenden kurdischen Exilparlaments in Brüssel bzw. des seit 1999 bestehenden kurdischen Nationalkongresses, aus dessen Reihen etwa der erste Vorsitzende des KONGRA-GEL, Zübeyir Aydar, stammt (Verfassungsschutzbericht NRW für 2003, S. 174).

Ein Verfolgungsinteresse des türkischen Staates besteht indes nicht im Hinblick auf jedes Mitglied einer derartigen Exilorganisation in gleicher Weise, sondern nur in Bezug auf Mitglieder, die eine politische Meinungsführerschaft übernommen haben. Das kann bei Vorstandsmitgliedern eingetragener Vereine einer derartigen Ausrichtung der Fall sein. Deren Gefährdung ergibt sich allerdings nicht bereits daraus, dass sie in das jedermann zur Einsichtnahme offen stehende Vereinsregister eingetragen sind. Aktuelle Erkenntnisse darüber, dass Mitarbeiter der türkischen Nachrichtendienste in nennenswertem Umfang die Vereinsregister einsehen, liegen nicht vor (Bundesministerium des Innern, Auskunft vom 27. September 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen).

Vielmehr spricht alles dafür, dass die Intensität, mit der einzelne Mitglieder von Exilorganisationen beobachtet werden, nicht von ihrer formalen Funktion in der Organisation, sondern von Art und Gewicht der politischen Betätigung abhängt. Es ist deshalb in allen Fällen - auch bei Vorstandsmitgliedern - im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu ermitteln, ob sich der Betreffende in so hinreichendem Maße als Ideenträger oder Initiator im Rahmen von aus türkischer Sicht staatsgefährdenden Bestrebungen hervorgetan hat, dass von einem Verfolgungsinteresse des türkischen Staates auszugehen ist. Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung ist auch zu prüfen, ob das betreffende Vorstandsmitglied erkennbar Leitungsaufgaben mit inhaltlich-politischem Bezug erfüllt oder nur eine passiv-untergeordnete Stellung einnimmt.

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass allein der Umstand, dass dem türkischen Staat einer seiner Staatsbürger im Zusammenhang etwa mit pro-kurdischen Aktivitäten namentlich bekannt geworden ist, zu einer beachtlich wahrscheinlichen Gefahr der menschenrechtswidrigen Behandlung bei den Befragungen nach der Rückkehr führt. Zwar verfügen die Geheimdienste über Informationen, die ihnen aus der türkischen Bevölkerung zugetragen werden. Sollten die türkischen Sicherheitskräfte tatsächlich (auf der Grundlage des Zusatz-Art. 7 PolG) "lange Listen verdächtiger Personen" führen (vgl. dazu Rumpf, Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin), werden diese Listen tausende von Namen umfassen. Geht man weiter davon aus, dass diese Listen über die Computer der türkischen Grenzpolizei jederzeit abrufbar sind (vgl. dazu Taylan, Gutachten vom 16. Januar 2001 an VG Magdeburg, und Aussage vor dem VG Gießen am 15. Mai 1997; Rumpf, Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S. 15 und 21 f.; Dinc, Gutachten vom 11. Februar 1998 an VG Berlin, S. 3; Kaya, Gutachten vom 16. März 1997 an VG Gießen, S. 2), müssten angesichts der hohen Abschiebungszahlen weit mehr Fälle von Folter durch die Flughafenpolizei bekannt geworden sein, wenn allein der Umstand, dass der Name des Rückkehrers im Zusammenhang mit exilpolitischen Aktivitäten bekannt geworden ist, regelmäßig zur Anwendung von Folter bei der Befragung der Rückkehrer führte. An derartigen Referenzfällen fehlt es jedoch. Daher ist der Schluss, dass ein der Flughafenpolizei aus den "Verdächtigenlisten" bekannter Abgeschobener ohne Rücksicht auf den Grund seiner Eintragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Folter während seiner Befragung rechnen muss, nicht gerechtfertigt. Ausschlaggebend sind vielmehr die konkreten Umstände des Einzelfalles und dabei insbesondere das inhaltliche oder politische Gewicht der exilpolitischen Aktivitäten und das daraus abzuleitende Interesse des türkischen Staates an dieser Person und an den Informationen, die er durch sie erlangen kann (vgl. OVG NRW Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, Rdn. 264 und 311; Urteil vom 22. August 2001 - 8 A 753/00.A -; Urteil 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, UA S. 66; Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, UA S. 80ff.; OVG Rheinland- Pfalz, Urteil vom 11. Juni 1999 - 10 A 1142/98.OVG -).