VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 23.01.2006 - A 11 K 13008/04 - asyl.net: M7994
https://www.asyl.net/rsdb/M7994
Leitsatz:

Nichtstaatliche Verfolgungsakteure können auch Einzelpersonen sein; Flüchtlingsanerkennung einer iranischen Staatsangehörigen wegen häuslicher Gewalt.

Schlagwörter: Iran, Flüchtlingsbegriff, nichtstaatliche Verfolgung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Genfer Flüchtlingskonvention, häusliche Gewalt, Vergewaltigung, Zwangsheirat, Scheidung, Schutzbereitschaft, Ehebruch
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 6; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. d
Auszüge:

Nichtstaatliche Verfolgungsakteure können auch Einzelpersonen sein; Flüchtlingsanerkennung einer iranischen Staatsangehörigen wegen häuslicher Gewalt.

(Leitsatz der Redaktion)

Die Klägerin hat allerdings einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass bei ihr die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

In § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG wird im Unterschied zum bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Konvention) Bezug genommen. Die Vorschrift führt nunmehr eine Anpassung des deutschen Rechts an die internationale Staatenpraxis bei der Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 herbei (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 91). Für die Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist deshalb der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 Genfer Konvention maßgebend. Da nach § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, ist die von der bisherigen Zurechnungslehre (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.04.1997, BVerwGE 104, 254) geforderte grundsätzliche Schutzfähigkeit des Staates ("mittelbare staatliche Verfolgung") nunmehr im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG unmaßgeblich (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 10.03.2005, NVwZ 2005, 725; VG Stuttgart, Urt. v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 - = Asylmagazin 3/2005, 20; VG Köln, Urt. v. 01.07.2005 - 18 K 7155/01.A - = Asylmagazin 11/2005, 22 und Urt. v. 17.06.2005 - 18 K 5407/01.A - Juris -). Der in § 60 Abs. 1 AufenthG festgelegte Standard erfordert einen effektiven Schutz vor Verfolgung, und zwar unabhängig davon, ob die Verfolgungshandlung einem staatlichen Träger zugeordnet werden kann oder nicht. Damit geht der Begriff der Verfolgung in § 60 Abs. 1 AufenthG über den Verfolgungsbegriff in Art. 16 a GG hinaus, so dass die vom Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urt. v. 18.01.1994, BVerwGE 95, 42) für § 51 Abs. 1 AuslG proklamierte Identität zwischen dem Begriff "politische Verfolgung" und den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG im Bereich des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr gilt.

Nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG können Organisationen ohne Gebietsgewalt, Gruppen oder auch Einzelpersonen sein, von denen eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG ausgeht. Mit § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG wurde Art. 6 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 304 v. 30.09.2004, S. 12 ff.) - Qualifikationsrichtlinie - in nationales deutsches Recht umgesetzt (vgl. Duchrow, ZAR 2004, 339; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.03.2005 aaO). Weder das Aufenthaltsgesetz noch die Qualifikationsrichtlinie enthalten eine nähere Bestimmung des Begriffs des nichtstaatlichen Akteurs. Aus der Gegenüberstellung von § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c mit lit. b AufenthG folgt aber, dass nichtstaatliche Akteure keinen Organisationsgrad aufweisen, wie er für Parteien oder Organisationen üblich ist, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen. Für eine Bejahung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG ist nicht erforderlich, dass die Verfolgung von Gruppen ausgeht, die dem Staat oder den Parteien oder Organisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 4 lit. b AufenthG ähnlich sind (a. A. VG Regensburg, Urt. v. 17.01.2005 - RO 3 K 04.30596 - = Asylmagazin 10/2005, 24; VG Sigmaringen, Urt. v. 05.04.2005 - A 3 K 12111/03 -). Ansonsten wäre § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG überflüssig. Denn entsprechende Sachverhalte fallen unter § 60 Abs. 1 S. 4 lit. b AufenthG, da sie dem unbestimmten Begriff der Organisationen zugeordnet werden können (ebenso VG Köln, Urt. v. 01.07.2005 aaO, und Urt. v. 17.06.2005 aaO). Nichtstaatliche Akteure können somit auch Einzelpersonen sein.

Nach § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bereits dann vorliegen, wenn die Verfolgung allein an das Geschlecht anknüpft. Zwar wird nach Art. 10 Abs. 1 d der Qualifikationsrichtlinie allein der Hinweis auf das Geschlecht bei einer geltend gemachten Verfolgung nicht als zureichend für die Darlegung des Verfolgungsgrunds angesehen. Dies hat jedoch keine einschränkende Auslegung des § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG zur Folge, da die Qualifikationsrichtlinie lediglich Mindeststandards festlegt und dem nationalen Gesetzgeber es nicht verwehrt ist, diese Mindeststandards zu überschreiten (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 23.03.2005 - 3 UE 3457/04.A - Juris = Asylmagazin 6/2005, 35). Von geschlechtsspezifischer Verfolgung sind danach insbesondere betroffen Frauen, die geschlechtsbezogener Diskriminierung entweder von Seiten staatlicher Stellen oder von Seiten Privater ausgesetzt sind, wenn der Staat sie nicht ausreichend schützen kann oder will, zudem Frauen, die Verfolgung befürchten, weil sie kulturelle oder religiöse Normen übertreten haben oder sich diesen nicht beugen wollen sowie Frauen, die Verfolgung auf Grund der Aktivitäten oder der Ansichten von Familienangehörigen befürchten (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 23.03.2005 aaO).

Bei der von der Klägerin erlittenen ehelichen Gewalt durch den ihr aufgezwungenen Ehemann handelt es sich zwar nicht um staatliche Verfolgung, gemäß § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG sind Verfolgungsmaßnahmen jedoch auch von nichtstaatlichen Akteuren relevant, soweit der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen einschließlich internationaler Organisationen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Diese Voraussetzungen sind zu bejahen. Die Klägerin hatte weder die Möglichkeit, sich von dem ihr aufgezwungenen Ehemann scheiden zu lassen noch konnte sie mit Schutzgewährung durch den iranischen Staat im Hinblick auf die ständige massive eheliche Gewalt rechnen. Nach der Auskunftslage (vgl. AA, Lagebericht v. 29.08.2005: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Iran - Reformen und Repression - vom 20.01.2004) werden Frauen im Iran in Bezug auf Familienrecht, Zivilrecht und Strafrecht nach wie vor als Menschen zweiter Klasse behandelt. So hat der Ehemann das Recht zur Scheidung, ohne dass er den Scheidungsantrag begründen muss; eine Frau kann hingegen lediglich bei Geisteskrankheit und Impotenz des Ehemannes eine Aufhebung der Ehe durch das Gericht verlangen. Wenn eine Frau sich scheiden lassen möchte, dann wird sie von der Polizei oder einem Gericht zu ihrem Ehemann zurückgeschickt. Frauen haben auch keine Möglichkeiten, rechtlich gegen einen gewalttätigen Ehemann vorzugehen. Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes (aaO) können sie bei ehelicher oder häuslicher Gewalt nicht darauf vertrauen, dass effektiver staatlicher Schutz gewährt wird. Bei dieser Auskunftslage ist die von einem Ehemann im Iran verübte eheliche Gewalt nicht verboten und die von Männern gegen ihre Frauen verübten Misshandlungen werden von der Regierung weiter geduldet.

Die gegen die Klägerin verübte eheliche Gewalt betraf sie in einem verfolgungserheblichen Merkmal im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG, nämlich dem für sie unverfügbaren Merkmal des weiblichen Geschlechts. Die im Iran erlittene Verfolgung war nach dem glaubhaften Vorbringen der Klägerin auch mit schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen verbunden.