VG Darmstadt

Merkliste
Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 28.10.2005 - 8 G 1070/05(2) - asyl.net: M8002
https://www.asyl.net/rsdb/M8002
Leitsatz:
Schlagwörter: Duldungsfiktion, Türken, Türkei, Assoziationsberechtigte, Stillhalteklausel, Dienstleistungsfreiheit, passive Dienstleistungsfreiheit, Einreise, Visumspflicht, Visum nach Einreise, Aufenthaltserlaubnis, sonstige Familienangehörige, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Lebensunterhalt, Ausnahmefall, außergewöhnliche Härte, Krankheit
Normen: AuslG § 69 Abs. 2 S. 1; Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen Art. 41 Abs. 1; DVAuslG 1965 § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 36; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 2 Abs. 3; RL 2003/86/EG Art. 4
Auszüge:

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vom 20.06.2005 ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft.

Wendet sich ein Ausländer im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Ablehnung eines Antrags auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, der vor dem Inkrafttreten des AufenthG gestellt wurde, so ist das Begehren nur dann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu beurteilen, wenn der Antrag auf Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zur Entstehung eines vorläufigen Bleibe- oder Aufenthaltsrechts nach § 69 Abs. 2 oder 3 AuslG geführt hat, das nach § 102 Abs. 1 Satz 3 AufenthG weitergilt.

Vorliegend kann sich die Antragstellerin auf eine fiktive Duldung nach § 69 Abs. 2 Satz 1 AuslG berufen.

Das Gericht geht jedoch davon aus, dass die Antragstellerin sich auf einen fiktiven Aufenthalt nach § 69 Abs. 2 Satz 1 AufenthG berufen kann, da sie berechtigt war, nach der Einreise die Aufenthaltserlaubnis erstmalig zu beantragen. Denn die Antragstellerin kann sich auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls berufen, der eine Standstill-Klausel enthält, die den Vertragsparteien untersagt, neue Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen. Diese Bestimmung ist bereits am 01.01.1973 in Kraft getreten. Sie ist - ebenso wie Art. 7 ARB 2/76 und Art. 13 ARB 1/80 - unmittelbar anwendbar (EuGH, U. v. 11.05.2000 - Rs. C - 37/98 -, Savas, InfAuslR 2000, 326 = EZAR 816 Nr. 6). Das Assoziierungsabkommen und das Zusatzprotokoll - und damit auch Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls - dienen dem Ziel, die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei zu fördern (EuGH, U. v. 11.5.2000 - Rs. C-37/98 -, Savas, InfAuslR 2000, 326 = EZAR 816 Nr. 6). Aufgrund der Standstill-Klausel sind daher alle seit dem 01.01.1973 erfolgten Verschärfungen im Dienstleistungsverkehr mit der Türkei unanwendbar. Ausgenommen sind nur diejenigen Verschärfungen, denen auch Dienstleistungserbringer aus anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft unterliegen. Denn türkische Dienstleistungserbringer dürfen gemäß Art. 59 des Zusatzprotokolls nicht besser gestellt werden als letztere.

Der Begriff der Dienstleistungsfreiheit ist nach den Normen des EG-Vertrages zu bestimmen (so auch VGH BW, B. v. 15.02.2001 - 13 S 2500/00 -, InfAuslR 2001, 261 [264]). Der freie Dienstleistungsverkehr schließt für EU-Bürger die Freiheit der Leistungsempfänger ein, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden (grundlegend EuGH, U. v. 31.01.1984 - Rs. 286/82 und 26/83 -, Luisi und Carbone, EuGHE 1984, 377).

Nachdem der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Savas (U. v. 11.05.2000 - Rs. C-37/98 Savas, InfAuslR 2000, 326 = EZAR 816 Nr. 6) entschieden hat, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen unmittelbar anwendbar ist, hat die Regelung unmittelbar Auswirkungen auf die Frage der Visumspflicht und damit der unerlaubten Einreise türkischer Staatsangehöriger. Die Vorschrift des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls führt dazu, dass für die Beurteilung der Einhaltung der Einreisebestimmungen durch türkische Staatsangehörige die Rechtslage des Ausländergesetzes im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls, d.h. am 01.01.1973, zugrunde zu legen ist, sofern diese günstiger ist. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG vom 10.09.1965 (BGBl. I S. 1341) in der Fassung vom 13.09.1972 (BGBl. I S. 1743 - im folgenden: DVAuslG 1965) benötigten türkische Staatsangehörige, die entsprechend der Positivliste von der Sichtvermerkspflicht grundsätzlich freigestellt waren, nur dann vor der Einreise einen Sichtvermerk, wenn sie im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten. Für sonstige Aufenthalte bestand ohne zeitliche Begrenzung grundsätzlich keine Visumspflicht, da diese erst durch die 11. Änderungsverordnung zur DVAuslG vom 01.07.1980 (BGBl. I S. 782) auch für türkische Staatsangehörige eingeführt wurde. Dabei konnte die Sichtvermerkspflicht im Hinblick auf die noch erforderliche Kündigung der deutsch-türkischen Sichtvermerksvereinbarung von 1953 erst am 5.10.1980 in Kraft treten. Die generelle Beschränkung des visumsfreien Aufenthalts auf einen Zeitraum von drei Monaten ist gleichfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich durch die 14. Änderungsverordnung zur DVAuslG vom 13.12.1982 (BGBl. I S. 1681) eingeführt worden; sie gilt demnach gleichfalls nicht für türkische Staatsangehörige, die sich auf die Standstill-Klausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzabkommens berufen können.

Da die Antragstellerin in das Bundesgebiet eingereist ist, um sich hier auch medizinisch behandeln und versorgen zu lassen, beabsichtigte sie die Entgegennahme von Dienstleistungen.

Konnte die Antragstellerin visumsfrei in das Bundesgebiet einreisen, so war sie als befreite Ausländerin berechtigt, die Aufenthaltserlaubnis nach ihrer Einreise zu beantragen.

Der zulässige Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO bleibt in der Sache ohne Erfolg.

Die Antragstellerin kann auch nach § 36 AufenthG keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geltend machen. Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Bestimmung ist das Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG. Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, dass der Lebensunterhalt im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert ist. Vorausgesetzt wird insbesondere ein ausreichender Krankenversicherungsschutz. Diesen vermochte die Antragstellerin nicht nachzuweisen, obwohl der Berichterstatter ihren Bevollmächtigten am 13.10.2005 telefonisch aufgefordert hatte, einen entsprechenden Nachweis vorzulegen.

Es ist auch kein atypischer Sonderfall gegeben, der ein Abweichen von den Regelerteilungsvoraussetzungen rechtfertigen könnte. Die chronischen Erkrankungen der Antragstellerin, die erhebliche Kosten des Gesundheitssystems mit sich bringen, führen nicht zur Annahme eines atypischen Sonderfalls. Vielmehr wollte der Gesetzgeber gerade mit der Erteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung einer derartigen Belastung der Sozialsysteme entgegenwirken. Auch der Gesundheitszustand der Antragstellerin und die Lebensumstände in ihrem Heimatland vermögen eine Ausnahme nicht zu rechtfertigen. Denn - wie im Rahmen des Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG noch auszuführen sein wird - ist der Antragstellerin eine Rückkehr in ihre Heimatland möglich und zumutbar.

Auch aus der Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 22.09.2003 (ABl. L 251 vom 03.10.2003, Seite 12) können keine weitergehenden Ansprüche abgeleitet werden. Zwar sieht die Richtlinie unter Art. 4 Abs. 2 lit. a für Verwandte in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden oder seines Ehegatten eine Nachzugsmöglichkeit vor, wenn letztere für ihren Unterhalt aufkommen und erstere in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben, jedoch ist die Bestimmung nicht unmittelbar anwendbar, da den Mitgliedstaaten eine Regelungsoption eingeräumt wird. Die in Art. 4 Abs. 2 RL 2003/86/EG enthaltenen Regelungsoptionen ist davon abhängig, dass die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften den Nachzug erst gestatten müssen, so dass es an der Unbedingtheit des Rechts fehlt, die Voraussetzung dafür ist, dass eine Norm unmittelbare Wirkung entfaltet.

Im Wege der richtlinienkonformen Auslegung wirken die Fallgruppen zwar unmittelbar auf die Regelung des § 36 AufenthG in Bezug auf die dort enthaltenen Nachzugsvoraussetzungen ein. Denn die Vorgaben der Richtlinie zur Familienzusammenführung sind geeignet, das Tatbestandsmerkmal zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte im Rahmen des § 36 AufenthG für den von Art. 4 Abs. 2 RL 2003/86/EG erfassten Personenkreis verbindlich zu konkretisieren. Jedoch fehlt es an der in der Richtlinienbestimmung verankerten Sicherstellung des Unterhalts durch den Zusammenführenden oder seinen Ehegatten.

Anders als für den Familiennachzug von EU-Bürgern und Drittstaatsangehörigen von Unionsbürgern, bei denen Art. 10 VO 1612/68/EWG das Gewähren von Unterhalt verlangt, wird der Nachzug - mit Ausnahmen - in Art. 4 Abs. 1 und 2 RL 2003/86/EG davon abhängig gemacht, dass der Zusammenführende für den Unterhalt des nachziehenden Familienangehörigen aufkommt.

Darüber hinaus dürfte in der Person der Antragstellerin keine außergewöhnliche Härte vorliegen, die dazu zwingen müsste, der Antragstellerin im Wege der Familienzusammenführung eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Eine außergewöhnliche Härte liegt vor, wenn der Ausländer sich in einer Sondersituation befindet, die sich deutlich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet.

Im Hinblick auf den schlechten Allgemeinzustand der Antragstellerin liegt zwar eine besondere Situation des Einzelfalls vor, jedoch führt diese nur dann zu der Annahme einer außergewöhnlichen Härte, wenn sich feststellen ließe, dass die Antragstellerin trotz ihrer Erkrankungen nicht in der Lage wäre, in ihrem Heimatland zu leben. Das Gericht geht insoweit ebenso wie die Antragsgegnerin davon aus, dass im Heimatland der Antragstellerin ausreichend Familienangehörige vorhanden sind, die die erforderlichen Betreuungsleistungen im Heimatland erbringen könnten.