VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 14.07.2005 - 6 B 98.33657 - asyl.net: M8010
https://www.asyl.net/rsdb/M8010
Leitsatz:

Übergangsregierung und Warlords üben in Teilgebieten Afghanistans staatsähnliche Macht aus; Verfolgungsgefahr für hochrangige ehemalige Kommunisten; keine Gefahr für Geschwister von ehemaligen Kommunisten.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Gebietsgewalt, Kabul, Übergangsregierung, Kommunisten, Racheakte, Warlords, DVPA, Hesb e Watan, Sippenhaft
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

Übergangsregierung und Warlords üben in Teilgebieten Afghanistans staatsähnliche Macht aus; Verfolgungsgefahr für hochrangige ehemalige Kommunisten; keine Gefahr für Geschwister von ehemaligen Kommunisten.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Asylrechtlichen Schutz können nach Art. 16 a Abs. 1 GG politisch Verfolgte verlangen. Eine Verfolgung ist dann "politisch", wenn sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, also - im Unterschied zu einer privaten Verfolgung - einen öffentlichen Bezug hat und von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist. Politische Verfolgung ist daher grundsätzlich staatliche Verfolgung (BVerfG vom 10.7.1989 BVerfGE 80, 315/333 f. = NVwZ 1990, 151). Dem Staat stehen solche staatsähnlichen Organisationen gleich, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen.

Ausgehend von den beigezogenen Unterlagen ist der Verwaltungsgerichtshof der Überzeugung, dass es in Afghanistan an einer das gesamte Land überspannenden staatlichen Gewalt fehlt, in Teilbereichen aber staatsähnlich strukturierte Herrschaften bestehen, die schutz- und verfolgungsmächtig sind.

Zu Repressionen gegenüber ehemaligen Kommunisten, also dem Hintergrund, auf den der Kläger sich beruft, führt der genannte Lagebericht aus (S. 18), dass zwar keine Anhaltspunkte dafür bestünden, die Übergangsregierung verfolge Angehörige dieser Personengruppe. Eine erhebliche Gefährdung hochrangiger früherer Repräsentanten der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (Partscham - wie Khalq-Flügel) oder herausragender Militärs und Polizeirepräsentanten sowie des Geheimdienstes Khad der kommunistischen Zeit durch Teile der Bevölkerung könne allerdings als mögliche Reaktion auf frühere Menschenrechtsverletzungen nicht ausgeschlossen werden. Es bestünden Hinweise darauf, dass einzelne Regierungsmitglieder in eigener Verantwortung Verfolgung, Repression und auch Tötung ehemaliger Feinde guthießen. Private Racheakte gegen hochrangige ehemalige Repräsentanten des kommunistischen Systems könnten nicht ausgeschlossen werden. Einige ehemalige Kommunisten, die sich zur Zeit in Kabul aufhielten, könnten dies nur deshalb gefahrlos tun, weil sie über entsprechende Netzwerke und Kontakte verfügten. Ohne diese Absicherung sei ein gefahrloser Aufenthalt in der Hauptstadt undenkbar. Die Zentralregierung verfüge nicht über die notwendigen Machtmittel, um ihre Bürger in ausreichendem Maße zu schützen. In zahlreichen Provinzen sei der Einfluss der Zentralregierung begrenzt bzw. praktisch nicht vorhanden.

Der Kläger begründet eine drohende Verfolgungsgefahr mit den Positionen seiner beiden Brüder zur Zeit der Herrschaft Nadjibullahs. "Alle Polizei- und Sicherheitskräfte, ob sie nun den Weisungen des Innenministeriums folgen oder in die quasi-staatlichen Strukturen der Lokalherrscher integriert sind, …vertreten mehrheitlich die Ideologie der diversen Mudjaheddin-Parteien. Diese sind sich jedoch über die Verfolgung ehemaliger "Kommunisten" und aller Personen, die sie als "gottlos" bezeichnen, einig. ... auch die Übergangsregierung (ist) entweder nicht in der Lage oder nicht bereit, solche Personen zu schützen, obwohl sie "offiziell" keine politischen Gegner verfolgt. Ein abgeschobener Asylbewerber beispielsweise könnte keineswegs auf Schutz durch Regierung und Polizei bauen, sondern müsste im Gegenteil damit rechnen, auch unter den heutigen Verhältnissen Verfolgung durch Polizei und Justiz ausgesetzt zu sein" (Dr. Danesch a.a.O. S. 24). Damit kommt es allein darauf an, ob für den Kläger die Gefahr besteht, als sog. "Gottloser" eingestuft zu werden. Das ist auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel zu verneinen.

In eigener Person konnte er altersbedingt nicht als Kommunist hervortreten und keine Taten begehen, die heute Verfolgungsmaßnahmen nach sich ziehen würden.

Zwar stehen dem Kläger in Afghanistan keine persönlichen Beziehungen (Netzwerke) zur Verfügung, die ihn vor Angriffen bewahren könnten. Es finden sich jedoch in sämtlichen Unterlagen nicht die geringsten Hinweise, dass auch Angehörige der Seitenlinie ehemaliger kommunistischer Funktionäre selbst in gehobener Position Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wären.